<?xml version="1.0" encoding="UTF-8"?><rss version="2.0" xmlns:content="http://purl.org/rss/1.0/modules/content/" xmlns:wfw="http://wellformedweb.org/CommentAPI/" xmlns:dc="http://purl.org/dc/elements/1.1/" xmlns:atom="http://www.w3.org/2005/Atom" xmlns:sy="http://purl.org/rss/1.0/modules/syndication/" xmlns:slash="http://purl.org/rss/1.0/modules/slash/" > <channel> <title>emergence – Lehre in den Digital Humanities</title> <atom:link href="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?btdb_keywords=emergence&feed=rss2" rel="self" type="application/rss+xml" /> <link>https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de</link> <description>Ein Portal der IT-Gruppe Geisteswissenschaften der LMU</description> <lastBuildDate>Fri, 20 Oct 2023 09:38:01 +0000</lastBuildDate> <language>de</language> <sy:updatePeriod> hourly </sy:updatePeriod> <sy:updateFrequency> 1 </sy:updateFrequency> <generator>https://wordpress.org/?v=6.7.1</generator> <item> <title>Gestaltpsychologie und aktuelle Wahrnehmungspsychologie</title> <link>https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=38155</link> <comments>https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=38155#comments</comments> <dc:creator><![CDATA[Thomas Krefeld]]></dc:creator> <pubDate>Mon, 14 Nov 2016 08:52:06 +0000</pubDate> <category><![CDATA[Allgemein]]></category> <category><![CDATA[Erkennen]]></category> <category><![CDATA[Figur-Hintergrund]]></category> <category><![CDATA[Gestalt]]></category> <category><![CDATA[Kippfiguren]]></category> <category><![CDATA[Prägnanz]]></category> <category><![CDATA[Salienz]]></category> <category><![CDATA[Symmetrie]]></category> <category><![CDATA[Übersummativität]]></category> <category><![CDATA[Wahrnehmungsforschung]]></category> <category><![CDATA[Was-Strom]]></category> <category><![CDATA[Wo-Strom]]></category> <guid isPermaLink="false">https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=38155</guid> <description><![CDATA[Lizenzierung 1. Der Gestaltbegriff und seine späte Rezeption in der Linguistik Nihil est in intellectu quod non sit prius in sensu – Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in der Wahrnehmung wäre. (Thomas von Aquin, nach Aristoteles, De anima III, 8) Hinter den unterschiedlichen semantischen Prozessen und der damit verbundenen Übertragung von Bedeutungen wurden […]]]></description> <content:encoded><![CDATA[<p class="itg_tools_paragraph"><a href="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=21073">Lizenzierung</a></p> <h1 id="chapter:2-der-gestaltbegriff-und-seine-spaete-rezeption-in-der-linguistik"><a id="chapter:der-gestaltbegriff-und-seine-spaete-rezeption-in-der-linguistik" href="#chapter:2-der-gestaltbegriff-und-seine-spaete-rezeption-in-der-linguistik">2. Der Gestaltbegriff und seine späte Rezeption in der Linguistik</a></h1> <blockquote class="itg_tools_paragraph"> <p style="text-align: right;">Nihil est in intellectu quod non sit prius in sensu<br /> – Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in der Wahrnehmung wäre.<br /> (Thomas von Aquin, nach Aristoteles, De anima III, 8)</p> </blockquote> <p class="itg_tools_paragraph">Hinter den unterschiedlichen semantischen Prozessen und der damit verbundenen Übertragung von Bedeutungen wurden zwei grundlegende Assoziationsprinzipien ausgemacht, die Similarität ('Ähnlichkeit') und die Kontiguität ('Nachbarschaft'). Beide sind weitgehend in der Perzeption verankert sind und vor allem die Wahrnehmung von Bewegung hat überdies gezeigt, dass die Ähnlichkeit von Perzepten nicht direkt auf Eigenschaften und schon gar nicht auf abstrakte Merkmale der außersprachlichen Realität zurückgeführt werden kann. Es ist vielmehr erforderlich, auch die neurophysiologische Verarbeitung der sensorischen Stimuli zu berücksichtigen (so weit dies nach dem Stand des Wissens möglich ist).</p> <p class="itg_tools_paragraph">Es wäre daher durchaus irreführend, die mentalen Repräsentationen ('Vorstellungsbilder') als passiv empfangene Spiegelbilder der Außenwelt zu verstehen. Darauf hat <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Cassirer">Ernst Cassirer</a> in einem wichtigen Aufsatz aufmerksam gemacht, der zu einer Zeit (1944) in den USA publiziert wurde, als die Psychologie und Sprachwissenschaft durch einen mechanischen Behaviorismus beherrscht wurden, der keinen Platz für kognitive Modelle ließ:</p> <blockquote class="itg_tools_paragraph"> <p style="padding-left: 30px;">What we discussed last seems to digress far from the problems of the perceptual world. It is characteristic of perception that it never attains to that stage which represents the beginning of geometrical thought. Perception cannot abbandon the <i>hic et nunc</i>, since its peculiar task is just to apprehend the <i>hic et nunc</i> as precisely and completely as possible. If perception would ease to have an individual content, it would ease to have any context whatsoever. We do not deny the possibility of perceptional content. We do not deny, for rationalistic or intellectual reasons, that perception never will and can attain to that form of universality for which geometrical thought is striving. On the other hand, the sensualistic thesis, which modern psychology started out from, cannot be maintained either. It is not the force of epistemological objections, but a simple clarification of the phenomenological facts involved in perception, that has refuted this thesis. When nowadays one attempts to describe these facts as they are revealed by experiment and precise analysis, one can no longer stick to the conception that perception is nothing but a bundle of sense-impressions. That the perceptual world does possess a structure and that this structure cannot be reduced to a mere mosaic, an aggregate of scattered sensations may be taken as an established conclusion of psychology, and it is upon this conclusion that we base our reflections in the following. <span class="cite" key="cassirer1944" tex_cit="\cite[][9]{cassirer1944}" title="Cassirer (1944): The concept of group and the theory of perception."><a href=#lit:cassirer1944>(Cassirer 1944, 9)</a></span></p> </blockquote> <p class="itg_tools_paragraph">Die 'Struktur der perzeptiven Welt' führt Cassirer auf die Konditionierung der Perzeption durch den Wahrnehmungsapparat selbst zurück. Er beruft sich dabei auf die grundlegenden Einsichten der so genannten Gestaltpsychologie oder Gestaltheorie, die - wenn auch mit erstaunlicher Verspätung - in der Sprachwissenschaft, insbesondere in der kognitiven Linguistik eine starke Wirkung entfalten sollten: Die sprachwissenschaftliche Rezeption ist - von <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_B%C3%BChler">Karl Bühler</a> abgesehen - zunächst in den USA erfolgt, wohin zahlreiche bedeutende Gestaltpsychologen während der Nazi-Herrschaft auswandern mussten. In die USA war auch Karl Bühler emigriert; er konnte dort jedoch nicht mehr wirklich Fuß fassen. Immerhin entstand eine kleine Arbeit zum "Gestaltprinzip", in der er diesen zentralen Begriff seiner psychologischen und sprachwissenschaftlichen Forschung scharf konturiert. </p> <p style="padding-left: 70px;" class="itg_tools_paragraph">"Das Gestaltprinzip [...] ist, generell gesagt, ein Ordnungsprinzip im Leben der Organismen. […] Was der Ausdruck «Schlankheit» bedeutet, ist kein Teil sondern ein <i>anschauliches</i> Moment an dem präsentierten Etwas. Diese Überlegung führt weiterhin zu einem Vergleich der Gestalten und ihrer Abhebung von dem, was unter dem Namen <i>Begriffe </i>verstanden wird. Die Gestalten sind also, unserer Ansicht nach, keine <i>Denkprodukte</i>. Dies wird besonders deutlich am menschlichen Säugling und an Tieren (bis hinunter zu den Insekten). Während im Begriff ein Absehen, eine Abstraktion beschlossen liegt, bleibt das gestaltlich Erfasste <i>inhaltsgesättigt</i>." (<span class="cite" key="bühler1960" tex_cit="\citealp[][20]{bühler1960}" title="Bühler (1960): Enzyklopädie der Psychologie. Band 5. Das Gestaltprinzip im Leben des Menschen und der Tiere.."><a href=#lit:bühler1960>Bühler 1960, 20</a></span>, Anm. 1)</p> <p style="padding-left: 70px;" class="itg_tools_paragraph"><i style="font-family: inherit; font-weight: inherit;">"Das Gestaltprinzip als ein Mittleres zwischen Sinnesempfindungen und begrifflichem Erkennen. </i><span style="font-size: 16px; font-style: normal;">Es gibt, um die These zu wiederholen, eine Brücke, metaphorisch gesprochen, zwischen dem Empfinden von Sinnesdaten und dem (begrifflichen) Denken, das Gestalterlebnis nämlich." <span class="cite" key="bühler1960" tex_cit="\cite[][88]{bühler1960}" title="Bühler (1960): Enzyklopädie der Psychologie. Band 5. Das Gestaltprinzip im Leben des Menschen und der Tiere.."><a href=#lit:bühler1960>(Bühler 1960, 88)</a></span></span></p> <p style="padding-left: 70px;" class="itg_tools_paragraph"><span style="font-size: 16px; font-style: normal;">"Auch die automatische </span><i style="font-family: inherit; font-weight: inherit;">Transponierbarkeit </i><span style="font-size: 16px; font-style: normal;">im Erlebnis der optischen und der akustischen Gestalten hebt sie ab von den Empfindungsdaten, welche wir abstraktiv isolieren und für sich benennen können. So sehen wir im Regenbogen Rot, Gelb, Grün, Blau, Violett nebeneinander liegen und ineinander übergehen; doch vermögen wir sie nicht in der gleichen Weise zu </span><i style="font-family: inherit; font-weight: inherit;">transponieren</i><span style="font-size: 16px; font-style: normal;">. [...] die Theorien des Farbensehens sind ab ovo keine Angelegenheit des Gestaltprinzips." <span class="cite" key="bühler1960" tex_cit="\cite[][88]{bühler1960}" title="Bühler (1960): Enzyklopädie der Psychologie. Band 5. Das Gestaltprinzip im Leben des Menschen und der Tiere.."><a href=#lit:bühler1960>(Bühler 1960, 88)</a></span></span></p> <p style="padding-left: 70px;" class="itg_tools_paragraph"><span style="font-size: 16px; font-style: normal;">"Die sprachliche Wendung, das Gestaltprinzip sei ein </span><i style="font-family: inherit; font-weight: inherit;">Mittleres </i><span style="font-size: 16px; font-style: normal;">zwischen Sensationen und begrifflichem Denken, bedeutet, dass es einerseits [...] zu den «Intuitionen» gehört wie die Empfindungen und doch andererseits auch transponierbar ist; dies so, wie die rein begrifflichen Operationen und Befunde. Es ist mit anderen Worten ansatzweise mit dem AAM der Biologen zu vergleichen, kann jedoch im Bereich der menschlichen Begabung begrifflich denkend überprüft werden." <span class="cite" key="bühler1960" tex_cit="\cite[][91]{bühler1960}" title="Bühler (1960): Enzyklopädie der Psychologie. Band 5. Das Gestaltprinzip im Leben des Menschen und der Tiere.."><a href=#lit:bühler1960>(Bühler 1960, 91)</a></span></span></p> <p class="itg_tools_paragraph">Aber auch in den vereinigten Staaten setzte die Rezeption erst spät ein; vor allem <span class="cite" key="lakoff1977" tex_cit="\citealp[][]{lakoff1977}" title="Lakoff (1977): Linguistic gestalts."><a href=#lit:lakoff1977>Lakoff 1977</a></span> hat dabei eine große Rolle gespielt.</p> <h2 id="subchapter:2-1-gestaltbildende-faktoren"><a id="subchapter:gestaltbildende-faktoren" href="#subchapter:2-1-gestaltbildende-faktoren">2.1. Gestaltbildende Faktoren</a></h2> <p class="itg_tools_paragraph">Aus den grundlgenden Arbeiten vor allem von <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Wertheimer">Max Wertheimer</a>, <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_K%C3%B6hler_(Psychologe)">Wolfgang Köhler</a> und <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Koffka">Kurt Koffka</a> wurden vereinfachend sogenannte ‘<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Gestaltpsychologie">Gestaltgesetze</a>’ abgeleitet, die natürlich eher als allgemeine Prinzipien und nicht als strenge Gesetze zu sehen sind. In Anlehnung an <span class="cite" key="massironi1998" tex_cit="\cite[][]{massironi1998}" title="Massironi (1998): Fenomenologia della percezione visiva."><a href=#lit:massironi1998>(Massironi 1998)</a></span>, ist es eher angebracht von Gestaltmerkmalen oder ‘gestaltbildenden Faktoren’ zu reden:</p> <div class="thumb tright itg_tools_paragraph"> <div class="thumbinner"> <ul> <li class="thumbcaption"> <div class="magnify"> Der Faktor Kontiguität ('Nähe'): Elemente mit geringen Abständen zueinander werden als zusammengehörig wahrgenommen; die Punkte der folgenden linken Abbildung werden weder als Zeilen noch als Kolonnen, sondern als Quadrat wahrgenommen; in der rechten erscheinen uns durch die Auseinanderrückung drei Kolonnen.</div> <div class="magnify"> <div id="attachment_39286" style="width: 722px" class="wp-caption alignnone"><img fetchpriority="high" decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39286" class="wp-image-39286 size-full" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479117242_Gestalt_proximity.svg_.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479117242 Gestalt proximity.svg " width="712" height="298" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479117242_Gestalt_proximity.svg_.png 712w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479117242_Gestalt_proximity.svg_-300x126.png 300w" sizes="(max-width: 712px) 100vw, 712px" /><p id="caption-attachment-39286" class="wp-caption-text">Kontiguität als gestaltbildender Faktor</p></div> </div> </li> </ul> </div> </div> <div class="thumb tright itg_tools_paragraph"> <div class="thumbinner"> <ul> <li class="thumbcaption"> <div class="magnify">Der Faktor Similarität: Einander ähnliche Elemente werden eher als zusammengehörig erlebt als einander unähnliche. In der folgenden Abbildung sehen wir Zeilen und nicht Kolonnen; die Ähnlichkeit dominiert hier die Nähe.</div> </li> </ul> <div id="attachment_39287" style="width: 310px" class="wp-caption alignnone"><img decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39287" class="wp-image-39287 size-full" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479117496_Gestalt_similarity.svg_.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479117496 Gestalt similarity.svg " width="300" height="300" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479117496_Gestalt_similarity.svg_.png 300w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479117496_Gestalt_similarity.svg_-150x150.png 150w" sizes="(max-width: 300px) 100vw, 300px" /><p id="caption-attachment-39287" class="wp-caption-text">Similarität als gestaltbildender Faktor</p></div> </div> </div> <ul class="itg_tools_paragraph"> <li>Die Similarität wird durch den Faktor Symmetrie zusätzlich gestärkt: Die folgenden Graphiken zeigen die starke Wirkung dieses Faktors, der die starke Richtungsfortsetzung sogar noch überlagert; in der Abbildung b) wird im oberen Teil das weiße, im unteren jedoch das schwarze Element als 'Geländer' gesehen, denn es ist dort jeweils symmetrisch ausgeführt. Die asymmetrischen Elemente werden dagegen unwillkürlich als 'Zwischenräume', d.h. als Hintergrund gesehen. </li> </ul> <div id="attachment_39377" style="width: 1112px" class="wp-caption alignnone itg_tools_paragraph"><img decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39377" class="wp-image-39377 size-full" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479124833_Gestalt_Symmetrie2.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479124833 Gestalt Symmetrie2" width="1102" height="607" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479124833_Gestalt_Symmetrie2.png 1102w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479124833_Gestalt_Symmetrie2-300x165.png 300w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479124833_Gestalt_Symmetrie2-768x423.png 768w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479124833_Gestalt_Symmetrie2-1024x564.png 1024w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479124833_Gestalt_Symmetrie2-800x441.png 800w" sizes="(max-width: 1102px) 100vw, 1102px" /><p id="caption-attachment-39377" class="wp-caption-text">Symmetrie als besonders starker Similaritätsfaktor der Gestaltbildung (aus Massironi 1998, 86 bzw. Shepard 1990)</p></div> <ul class="itg_tools_paragraph"> <li>Der Faktor einfache Prägnanz: Bestimmte einfache Gestalten werden bevorzugt wahrgenommen und gelten daher als 'gute Gestalt'. Unter dem Einfluss der englischsprachigen Literatur wurd der Ausdruck <em>Prägnant</em> bzw.<em> prägnant </em>weitgehend durch <em>Salienz</em> bzw. <em>salient</em> ersetzt.</li> </ul> <div id="attachment_39288" style="width: 310px" class="wp-caption alignnone itg_tools_paragraph"><img loading="lazy" decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39288" class="size-medium wp-image-39288" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479117940_Gestalt_gute_gestalt-300x122.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479117940 Gestalt gute gestalt" width="300" height="122" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479117940_Gestalt_gute_gestalt-300x122.png 300w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479117940_Gestalt_gute_gestalt-768x312.png 768w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479117940_Gestalt_gute_gestalt.png 792w" sizes="auto, (max-width: 300px) 100vw, 300px" /><p id="caption-attachment-39288" class="wp-caption-text">/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479117940 Gestalt gute gestalt</p></div> <ul class="itg_tools_paragraph"> <li>Der Faktor der Richtungsfortsetzung (oder der durchgehenden Linie): Linien werden immer so gesehen, als folgten sie dem einfachsten Weg:</li> </ul> <blockquote class="itg_tools_paragraph"> <p style="padding-left: 30px;">Dato un insieme di stimoli disposti in modo da seguire traiettorie diverse tra loro incrociatesi, gli elementi che fanno parte di una stessa traiettoria tendono a unificarsi in un'entità autonoma. <span class="cite" key="massironi1998" tex_cit="\cite[][66]{massironi1998}" title="Massironi (1998): Fenomenologia della percezione visiva."><a href=#lit:massironi1998>(Massironi 1998, 66)</a></span></p> </blockquote> <div id="attachment_39289" style="width: 819px" class="wp-caption alignnone itg_tools_paragraph"><img loading="lazy" decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39289" class="wp-image-39289 size-full" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479118297_Gestalt_Richtung.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479118297 Gestalt Richtung" width="809" height="420" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479118297_Gestalt_Richtung.png 809w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479118297_Gestalt_Richtung-300x156.png 300w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479118297_Gestalt_Richtung-768x399.png 768w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479118297_Gestalt_Richtung-800x415.png 800w" sizes="auto, (max-width: 809px) 100vw, 809px" /><p id="caption-attachment-39289" class="wp-caption-text">Richtungsfortsetzung als gestaltbildender Faktor</p></div> <ul class="itg_tools_paragraph"> <li>Der Faktor der Geschlossenheit: Es werden bevorzugt geschlossene Strukturen wahrgenommen. In der folgenden Graphik sehen wird einen geschlossenen Würfel indem wir die Linien unwillkürlich ergänzen. </li> </ul> <div id="attachment_39292" style="width: 310px" class="wp-caption alignnone itg_tools_paragraph"><img loading="lazy" decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39292" class="wp-image-39292 size-medium" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479118584_Gestalt_geschlossenheit-300x285.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479118584 Gestalt geschlossenheit" width="300" height="285" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479118584_Gestalt_geschlossenheit-300x285.png 300w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479118584_Gestalt_geschlossenheit.png 395w" sizes="auto, (max-width: 300px) 100vw, 300px" /><p id="caption-attachment-39292" class="wp-caption-text">Geschlossenheit als gestaltbildender Faktor</p></div> <p class="itg_tools_paragraph">Die genannten Faktoren gelten in ähnlicher Weise für die Wahrnehmung von Bewegung. So: </p> <ul class="itg_tools_paragraph"> <li style="list-style-type: none;"> <ul> <li style="list-style-type: none;"> <ul> <li>Der Faktor des gemeinsamen Schicksals: Zwei oder mehrere sich gleichzeitig <a href="http://www.robaweb.de/gdm/inhalt/VisuelleWahrnehmung/Gestaltwahrnehmung/03-Gestaltgesetze.html#GesetzDesGemeinsamenSchicksals">in eine Richtung bewegende Elemente</a> werden als eine Einheit oder Gestalt wahrgenommen.</li> <li>Der Faktor der Gleichzeitigkeit: gleichzeitig Veränderung führt dazu, dass die sich verändernden Elemente als zusammengehörig perzipiert werden.</li> </ul> </li> </ul> </li> </ul> <p class="itg_tools_paragraph">Die gestaltpsychologische Tradition ist sehr stark an der visullen Wahrnehmung ausgerichtet; es gibt aber zweifellos auch akustische Gestalten, wie z.B. Melodien. </p> <h2 id="subchapter:2-2-figur-und-hintergrund"><a id="subchapter:figur-und-hintergrund" href="#subchapter:2-2-figur-und-hintergrund">2.2. Figur und Hintergrund</a></h2> <p class="itg_tools_paragraph">Die gestaltbildenden Faktoren spielen eine große Rolle bei der Strukturierung unseres visuellen Wahrnehmungsraums; insbesondere tragen sie entscheidend dazu bei, ihm eine eine nach Vorder- und Hintergrund gestaffelte Perspektive zu geben: unsere Perzeption präsentiert uns ja vordergründige Objekte, d.h. Gestalten (engl. <em>figure</em>) vor einem zurücktretenden Hintergrund (engl. <em>ground</em>). Die geschlossene Linie (bzw. die geraden Kanten) sorgen dafür das die folgende linke Graphik uns weiße Quadrate auf blauem Hintergrund sehen lässt. In der rechten Graphiken erscheinen die weißen Quadrate dagegen wie Löcher in einem blaue Sternmuster, so dass der weiße Hintergrund sichtbar wird:</p> <div id="attachment_39596" style="width: 510px" class="wp-caption alignnone itg_tools_paragraph"><img loading="lazy" decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39596" class="wp-image-39596" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479201516_Geschlossenheit_Figur.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479201516 Geschlossenheit Figur" width="500" height="223" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479201516_Geschlossenheit_Figur.png 697w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479201516_Geschlossenheit_Figur-300x134.png 300w" sizes="auto, (max-width: 500px) 100vw, 500px" /><p id="caption-attachment-39596" class="wp-caption-text">Geschlossenheit und Hintergrund (nach einer Vorlage in Massironi 1998, 87)</p></div> <p class="itg_tools_paragraph">Die Geschlossenheit interagiert zudem mit der Form, so dass Konvexität den Eindruck einer vordergründigen Figur vermittelt, Konkavität dagegen dagegen als Hintergrund interpretiert wird. Der jeweils rechte und konvexe Teil der folgenden vier Graphiken wird unweigerlich als Segment einer Scheibe bzw. eines Rechtecks vor einem Hintergrund perzipiert. Auch bei Konzentration fällt es sehr schwer, die konkave Formen als Figur zu sehen. </p> <div id="attachment_39597" style="width: 510px" class="wp-caption alignnone itg_tools_paragraph"><img loading="lazy" decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39597" class="wp-image-39597" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479201901_Konvexitat_Figur.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479201901 Konvexitat Figur" width="500" height="436" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479201901_Konvexitat_Figur.png 722w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479201901_Konvexitat_Figur-300x262.png 300w" sizes="auto, (max-width: 500px) 100vw, 500px" /><p id="caption-attachment-39597" class="wp-caption-text">Konvexitat und Hintergrund (nach einer Vorlage in Massironi 1998, 86</p></div> <p class="itg_tools_paragraph">Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Wahrnehmung der Figur durchaus mit der Art des Hintergrunds interagiert. Die gleichseitigen Dreiecke der folgenden Abbildungen zeigen als solche in keine bestimmte Richtung; durch die Linienscharen des Hintergrunds werden sie jedoch so aufgefasst, als ob sie ausgerichtet wären. </p> <div id="attachment_39704" style="width: 1017px" class="wp-caption alignnone itg_tools_paragraph"><img loading="lazy" decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39704" class="wp-image-39704 size-full" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479219245_Gerichtete_Pfeile.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479219245 Gerichtete Pfeile" width="1007" height="736" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479219245_Gerichtete_Pfeile.png 1007w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479219245_Gerichtete_Pfeile-300x219.png 300w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479219245_Gerichtete_Pfeile-768x561.png 768w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479219245_Gerichtete_Pfeile-800x585.png 800w" sizes="auto, (max-width: 1007px) 100vw, 1007px" /><p id="caption-attachment-39704" class="wp-caption-text">Durch den Hintergrund suggerierte Ausrichtung von Figuren (eigene Graphik nach einer Vorlage in Massaroni 1998, 90)</p></div> <h2 id="subchapter:2-3-kippfiguren"><a id="subchapter:kippfiguren" href="#subchapter:2-3-kippfiguren">2.3. Kippfiguren</a></h2> <p class="itg_tools_paragraph">Sehr lehrreich für das Verständnis unserer Wahrnehmungsleistungen sind ferner die so genannten <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Kippfigur">Kippfiguren</a>. Dabei handelt es sich um Graphiken unterschiedlicher Komplexität, die alternative Ansicht bieten. Der so genannte Necker-Würfel in der folgenden Abbildung kann aus zwei verschiedenen Perspektiven gesehen werden und das Doppelporträt zeigt entweder das Profil eines jungen Frau (von links hinten gesehen) oder einer alten Frau, deren linkes Auge dem linken Ohr in der Ansicht des jungen Mädchens entspricht.</p> <div id="attachment_39674" style="width: 886px" class="wp-caption alignnone itg_tools_paragraph"><img loading="lazy" decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39674" class="wp-image-39674 size-full" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479217328_Kippfiguren.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479217328 Kippfiguren" width="876" height="573" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479217328_Kippfiguren.png 876w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479217328_Kippfiguren-300x196.png 300w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479217328_Kippfiguren-768x502.png 768w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479217328_Kippfiguren-800x523.png 800w" sizes="auto, (max-width: 876px) 100vw, 876px" /><p id="caption-attachment-39674" class="wp-caption-text">Necker-Würfel und 'shit I turned into my mother'</p></div> <p class="itg_tools_paragraph">Dieser Effekt alternativer Lesbarkeit wurde von Peter <span class="cite" key="koch1994" tex_cit="\cite[][]{koch1994}" title="Koch (1994): Gedanken zur Metapher--und zu ihrer Alltäglichkeit."><a href=#lit:koch1994>(Koch 1994)</a></span> und im Anschluss von Andreas <span class="cite" key="blank2001" tex_cit="\cite[][74f.]{blank2001}" title="Blank (2001): Einführung in die lexikalische Semantik für Romanisten."><a href=#lit:blank2001>(Blank 2001, 74f.)</a></span> für die Metapherntheorie geltend gemacht. Beide sprechen explizit vom "metaphorischen Kippeffekt". Die Analogie besteht darin, dass die jeweils gegebenen Lesarten zwar schlagartig wechseln, aber sich gegenseitig ausschließen; es ist unmöglich, beide gleichzeitig oder aber ein unstrukturiertes Chaos wahrzunehmen.</p> <h2 id="subchapter:2-4-ganzheitlicher-charakter-der-%e2%80%98gestalt%e2%80%99"><a id="subchapter:ganzheitlicher-charakter-der-%e2%80%98gestalt%e2%80%99" href="#subchapter:2-4-ganzheitlicher-charakter-der-%e2%80%98gestalt%e2%80%99">2.4. Ganzheitlicher Charakter der ‘Gestalt’</a></h2> <p class="itg_tools_paragraph">Die erkannte Figur, oder: Gestalt, kann durchaus sehr komplex sein. Entscheidend ist die Tatsache, dass sie als Ganzes, sozusagen schlagartig erkannt wird. Das Erkennen ist also gerade nicht das Resultat aus vielen Einzelwahrnehmungen von spezifischen Merkmalen, die dann sukzessive zusammengesetzt werden. Ein wichtiger Wegbereiter der Gestalttheorie, <a href="https://portal.hogrefe.com/dorsch/ehrenfels-christian-von/">Christian von Ehrenfels</a>, hat dafür das Schlagwort der ‘Übersummativität’ geprägt (vgl. <span class="cite" key="ehrenfels1890" tex_cit="\citealp[][]{ehrenfels1890}" title="Ehrenfels (1890): Über Gestaltqualitäten."><a href=#lit:ehrenfels1890>Ehrenfels 1890</a></span>); eine Gestalt sei grundsätzlich mehr bzw. etwas anderes als die Summe ihrer Teile. Ein sehr anschauliche Beschreibung dieses Art des Erkennens gibt Karl Bühler ausgehend vom Wortverstehen:</p> <blockquote class="itg_tools_paragraph"> <p style="padding-left: 30px;">Der Wortschatz einer Sprache wie des Deutschen enthält viel tausend Lautbilder, die sich im Interesse eines eindeutigen Sprechverkehrs genügend scharf voneinander abheben müssen. Wenn der Psychologe zusieht, wie dies geschieht, so findet er im Grunde dieselben Mittel, die ihm von andern Gebieten her vertraut sind. Angenommen ich muß ebenso viele Menschen, wie es Lautbilder in meiner Sprache gibt, auseinanderhalten und wiedererkennen, so kann dies in gewissen Grenzen ohne sonderliche Zurüstungen und wohlausgearbeitete Hilfsmittel geschehen; ich erkenne Hunderte von näheren Bekannten am Gesicht oder Wuchs, an eigenartigen Bewegungen oder an der Stimme. Und das heißt begrifflich gefaßt: an <em>Komplexcharakteren, </em>um die ich mich nicht besonders zu bemühen brauche, weil sie mir im Verkehr wie von selbst aufgehen und behalten werden; sie entstehen jedenfalls vielfach ohne eine nachweisbare Aufgliederung in Sonderelemente. <span class="cite" key="bühler1965" tex_cit="\cite[][275]{bühler1965}" title="Bühler (1965): Sprachtheorie: Die Darstellungsfuktion der Sprache von Karl Bühler. Mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz."><a href=#lit:bühler1965>(Bühler 1965, 275)</a></span></p> </blockquote> <p class="itg_tools_paragraph">Das heißt, wir erkennen Wörter so wie bekannte Personen oder eben alle vertrauten Dinge, sehr schnell und zuverlässig - aber ohne, dass wir genau sagen könnte woran. Unterscheidende Einzelmerkmale brauchen wir nur dann, wenn das ganzheitliche Funktionieren nicht funktioniert, also etwa dann, wenn sich ein Zwilling vom anderen durch ein Muttermal unterscheidet. </p> <h2 id="subchapter:2-5-%e2%80%98gestalt%e2%80%99-und-aktuelle-wahrnehmungsforschung"><a id="subchapter:%e2%80%98gestalt%e2%80%99-und-aktuelle-wahrnehmungsforschung" href="#subchapter:2-5-%e2%80%98gestalt%e2%80%99-und-aktuelle-wahrnehmungsforschung">2.5. ‘Gestalt’ und aktuelle Wahrnehmungsforschung</a></h2> <p class="itg_tools_paragraph">Der Begriff der Gestalt ist <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Heuristik">heuristisch</a> nach wie vor relevant. Es ist jedoch absehbar, dass die, oder wenigstens einige der gestaltbildenden Faktoren auf konkrete neurophysiologische Prozesse zurückgeführt werden. </p> <p class="itg_tools_paragraph">Die zeitgenössische Wahrnehmungsforschung hat die besondere Bedeutung von Linien und Kanten für die Objekterkennung hervorgehoben:</p> <blockquote class="itg_tools_paragraph"> <p style="padding-left: 30px;">Bei unterschiedlich gemusterten oder gefärbten Flächen ist die entscheidende Information in den Grenzlinien enthalten. Die Linien in Strichzeichnungen enthalten die gleiche Information wie diese Grenzlinien. Deshalb können wir in gewisser Hinsicht auf der Strichzeichnung eines Hauses ebenso viel erkennen wie beim Betrachten des Hauses. Das Sehsystem neigt dazu, Flächen innerhalb bestimmter Konturen als abgegrenzte Objekte vor einem Hintergrund wahrzunehmen. So empfinden wir einen kreisförmigen Strich auf einer einheitlichen Fläche nicht als Linie, sondern als Scheibe. <span class="cite" key="gegenfurtner2011" tex_cit="\cite[][116]{gegenfurtner2011}" title="Gegenfurtner (2011): Gehirn und Wahrnehmung, Eine Einführung [2003]."><a href=#lit:gegenfurtner2011>(Gegenfurtner 2011, 116)</a></span> </p> </blockquote> <p class="itg_tools_paragraph">Selbst da, wo keine Linien oder Kanten existieren werden sie vom Sehsystem erzeugt, um den Kontrast zu verstärken. Dieser Effekt wurde von <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Mach">Ernst Mach</a> schon 1865 beschrieben; die so genannten <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Mach_bands">Machschen Bänder</a> lassen sich sehr leicht und zuverlässig erzeugen. Die farblich homogenen senkrechten Streifen werden auch in sich als schattiert gesehen: Jeder Streifen erscheint an der Grenzen zum benachbarten dunkleren Streifen als heller und an der Grenze zum benachbarten helleren Streifen als dunkler. </p> <div id="attachment_39612" style="width: 854px" class="wp-caption alignnone itg_tools_paragraph"><img loading="lazy" decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39612" class="wp-image-39612 size-full" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479206530_Machsche_Baender.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479206530 Machsche Baender" width="844" height="677" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479206530_Machsche_Baender.png 844w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479206530_Machsche_Baender-300x241.png 300w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479206530_Machsche_Baender-768x616.png 768w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479206530_Machsche_Baender-800x642.png 800w" sizes="auto, (max-width: 844px) 100vw, 844px" /><p id="caption-attachment-39612" class="wp-caption-text">Machsche Baender</p></div> <p class="itg_tools_paragraph">Der Linien- bzw. Kantenverlauf ist wohl auch für den Faktor der Geschlossenheit verantwortlich, der ein Perzept als vordergründige Figur hervortreten lässt.</p> <h2 id="subchapter:2-6-objektwahrnehmung"><a id="subchapter:objektwahrnehmung" href="#subchapter:2-6-objektwahrnehmung">2.6. Objektwahrnehmung</a></h2> <p class="itg_tools_paragraph">Alternative Wahrnehmungen können in unstabiler Weise ‘kippen’; das muss jedoch keineswegs immer der Fall sein. Die runden Flächen der beiden folgenden Graphiken werden entweder als runde Erhebung oder aber als Vertiefungen gesehen, allerdings ist die Interpretation eindeutig durch die Schattierung konditioniert: Wenn die Helligkeit nach unten abnimmt ergibt sich wohl automatisch die Lesart als Erhebung. </p> <div id="attachment_39707" style="width: 1095px" class="wp-caption alignnone itg_tools_paragraph"><img loading="lazy" decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-39707" class="wp-image-39707 size-full" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479221775_Buckel_Gruben.png" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479221775 Buckel Gruben" width="1085" height="392" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479221775_Buckel_Gruben.png 1085w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479221775_Buckel_Gruben-300x108.png 300w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479221775_Buckel_Gruben-768x277.png 768w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479221775_Buckel_Gruben-1024x370.png 1024w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479221775_Buckel_Gruben-800x289.png 800w" sizes="auto, (max-width: 1085px) 100vw, 1085px" /><p id="caption-attachment-39707" class="wp-caption-text">Erhöhung und Vertiefung (eigene Graphik nach einer Vorlage in Gegenfurtner 2011,79)</p></div> <p class="itg_tools_paragraph">In der perzeptiven Korrelation von Vertikalität und Helligkeit (OBEN = HELL), die uns auch in der Polysemie sprachlicher Zeichen immer wieder begegnet, spiegelt zweifellos die Tatsache, dass "im Laufe der Evolution, und auch im Laufe unseres Lebens, die Lichtquelle fast immer ober ist" <span class="cite" key="gegenfurtner2011" tex_cit="\cite[][78]{gegenfurtner2011}" title="Gegenfurtner (2011): Gehirn und Wahrnehmung, Eine Einführung [2003]."><a href=#lit:gegenfurtner2011>(Gegenfurtner 2011, 78)</a></span>.</p> <p class="itg_tools_paragraph">Das Beispiel macht weiterhin auf einen anderen Komplex aufmerksam: Mit der größen Selbstverständlichkeit werden zweidimensionale Bilder, die auf der Netzhaut des Auges entstehen, dreidimensional interpretiert; nur so ist es möglich Objekte zu erkennen. Beim erfolgreichen Erkennen fließen also offenkundig noch andere Informationen ein:</p> <blockquote class="itg_tools_paragraph"> <p style="padding-left: 30px;">Die Wahrnehmung besteht nämlich nicht nur aus Daten des Netzhautbildes, sondern auch aus Erfahrungen wie z.B. erinnerten Formen. Die Gesamtwahrnehmung setzt sich dann aus Gesehenem und Erinnertem zusammen. <span class="cite" key="gegenfurtner2011" tex_cit="\cite[][]{gegenfurtner2011}" title="Gegenfurtner (2011): Gehirn und Wahrnehmung, Eine Einführung [2003]."><a href=#lit:gegenfurtner2011>(Gegenfurtner 2011)</a></span></p> </blockquote> <p class="itg_tools_paragraph">Das Erinnerte impliziert aber multimodale Informationen (aus unterschiedlichen Wahrnehmungssystemen), so haptische Erfahrungen (über den Hautsinn), die durch das Anfassen (das 'Begreifen') von dreidimensionalen Objekten vermittelt werden und durch das Sehen mit abgerufen werden. Es ist daher naheliegend, die spontane Interpretation konvexer Formen als Figur aus einer festen Assoziation der visuellen Form mit haptischer Dingerfahrung zu erklären. Wir greifen in der Regel konvexe Gegenstände; die Greiferfahrung konkaver Objekte ist selten und in der Regel auch riskant, weil schnell der Kontrolle durch den Blick entzogen; Griffe in nicht einsehbare Hohlräume erfordern Überwindung.</p> <p class="itg_tools_paragraph">Einerseits dominiert also das visuelle System:</p> <blockquote class="itg_tools_paragraph"> <p style="padding-left: 30px;">Die besondere Bedeutung der visuellen Wahrnehmung für Menschen und andere Primaten kann man an der Größe und der Anzahl der an der Bildanalyse beteiligten Gehirnareale ablesen. Neben der primären Sehrinde (V1), die etwa 15% der gesamten Großhirnrinde ausmacht, wurden bisher mehr als 30 verschiedene visuelle Areale beschrieben. Insgesamt sind etwa 60% der Großhirnrinde an der Wahrnehmung, Interpretation und Reaktion auf visuelle Reize beteiligt. (<a href="http://www.allpsych.uni-giessen.de/karl/teach/aka.htm">Gegenfurtner u..a.</a>)</p> </blockquote> <p class="itg_tools_paragraph">Die Dominanz dieser Modalität drückt sich auch in einer viel differenzierteren Lexikalisierung aus, auf die eine spezielle Vorlesung Bezug nehmen wird.</p> <p class="itg_tools_paragraph">Aber andererseits sind die visuellen Bilder mit (Erinnerungs)Wissen assoziiert, das aus anderen Sinnesmodalitäten stammt: Wenn wir etwas - zweidimensional - sehen, wissen wir sehr häufig, wie es sich - dreidimensional - anfühlt:</p> <div id="attachment_40014" style="width: 1494px" class="wp-caption alignnone itg_tools_paragraph"><img loading="lazy" decoding="async" aria-describedby="caption-attachment-40014" class="wp-image-40014 size-full" src="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479378377_WEICH_RAU.jpg" alt="/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/11/1479378377 WEICH RAU" width="1484" height="601" srcset="https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479378377_WEICH_RAU.jpg 1484w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479378377_WEICH_RAU-300x121.jpg 300w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479378377_WEICH_RAU-768x311.jpg 768w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479378377_WEICH_RAU-1024x415.jpg 1024w, https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/2016/11/1479378377_WEICH_RAU-800x324.jpg 800w" sizes="auto, (max-width: 1484px) 100vw, 1484px" /><p id="caption-attachment-40014" class="wp-caption-text">WEICH RAU</p></div> <p class="itg_tools_paragraph">Die taktile Perzeption, und die Erinnerung an entsprechende Wahrnehmungserlebnisse ist daher für das Wiedererkennen von großer Bedeutung; sie hat sich bekanntlich in etlichen Bedeutungsübertragungen niedergeschlagen:</p> <ul class="itg_tools_paragraph"> <li>wie deu. <em>begreifen ‘</em>verstehen’;</li> <li>deu. <em>handhaben ‘</em>verständig mit etwas umgehen’;</li> <li>ita. <em>capire ‘</em>verstehen’ < lat. <em><a href="http://www.zeno.org/Georges-1913/A/capio+%5B2%5D?hl=capere">capere</a> ‘</em>nehmen, ergreifen’;</li> <li>ita. <em><a href="http://www.treccani.it/vocabolario/afferrare/">afferrare</a> ‘</em>fassen, festhalten’ und <em>‘</em>verstehen’, eine Ableitung von <em>ferro ‘</em>Eisen’, also ursprünglich <em>‘</em>Eisen ergreifen und halten’;</li> <li>ita,<a href="http://www.treccani.it/vocabolario/comprendere/"><em> comprendere</em></a> < lat. <em><a href="http://www.zeno.org/Georges-1913/A/comprehendo?hl=comprehendo">comprehendere</a> ‘</em>zusammenhalten, fassen’ und bereits auch <em>‘</em>verstehen’; </li> <li>ita. <a href="http://www.treccani.it/vocabolario/apprendere/"><em>apprendere</em></a><em> <</em> lat. <a href="http://www.zeno.org/Georges-1913/A/apprehendo?hl=apprehendo"><em>apprehendere</em></a> <em>‘</em>anfassen, sich aneignen’ und <em>‘</em>verstehen’.</li> </ul> <p class="itg_tools_paragraph">Bei der Objekterkennung spielen neben der Erinnerung womöglich spezialisierte Neuronen eine Rolle: </p> <blockquote class="itg_tools_paragraph"> <p style="padding-left: 30px;">Im temporalen Kortex konnten Bereiche identifiziert werden, die spezifisch auf ganz bestimmte Objektkategorien antworten. Untersuchungen an Affen und Menschen zeigten, dass einige Zellen des inferotemporalen Kortex nur auf Hände oder Gesichter ansprechen. Unter den gesichtsspezifischen Zellen gibt es solche , die besonders gut auf frontale Ansichten von Gesichtern ansprechen. Verändert man das Gesicht, indem man Teile weglässt oder im Profil zeigt, verringern die Neuronen ihre Antwort. Andere reagieren bevorzugt auf Profilansichten, bestimmte Gesichtsausdrücke oder nur einzelne Gesichtselemente. Zum Teil genügen schon Grundelemente wie zwei Punkte und ein Strich, um eine Reaktion auszulösen. <span class="cite" key="gegenfurtner2011" tex_cit="\cite[][55]{gegenfurtner2011}" title="Gegenfurtner (2011): Gehirn und Wahrnehmung, Eine Einführung [2003]."><a href=#lit:gegenfurtner2011>(Gegenfurtner 2011, 55)</a></span> </p> </blockquote> <p class="itg_tools_paragraph">Man denkt hier sofort an die hohe Salienz (und den damit verbundenen Erfolg) der einfachen Smileys, wie <img src="https://s.w.org/images/core/emoji/15.0.3/72x72/1f642.png" alt="🙂" class="wp-smiley" style="height: 1em; max-height: 1em;" /> <img src="https://s.w.org/images/core/emoji/15.0.3/72x72/1f641.png" alt="🙁" class="wp-smiley" style="height: 1em; max-height: 1em;" /> usw.</p> <h2 id="subchapter:2-7-zwei-neuronale-verarbeitungsstroeme"><a id="subchapter:zwei-neuronale-verarbeitungsstroeme" href="#subchapter:2-7-zwei-neuronale-verarbeitungsstroeme">2.7. Zwei neuronale Verarbeitungsströme</a></h2> <p class="itg_tools_paragraph">Die Kognitions- und Wahrnehmungsforschung entwickelt sich sehr schnell; das darf allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass sehr viele und auch ganz grundsätzliche Zusammenhänge noch unbekannt sind. Es ist deshalb in jedem Fall spekulativ, sprachliche Kategorien unmittelbar mit neurologischem Wissen in Verbindung zu bringen. Allerdings drängen sich manche Spekulationen geradezu auf. Ein frappierendes Beispiel liefern die Erkenntnisse über die zwei Nervenbahnen, auf denen visuelle Reize verarbeitet werden: </p> <blockquote class="itg_tools_paragraph"> <p style="padding-left: 30px;">Von V1 ausgehend scheint die kortikale Verarbeitung visueller Information über <a href="http://www.allpsych.uni-giessen.de/karl/teach/aka.htm">zwei Hauptpfade</a> zu verlaufen, einen dorsalen Verarbeitungsstrom, der zum Scheitellappen verläuft, und einen ventralen Verarbeitungsstrom, der zum unteren Schläfenlappen 40 (Temporalkortex) zieht […] Auch neuere Befunde der funktionellen Kernspintomographie belegen, dass Aufgaben zur visuell räumlichen Orientierung vermehrt Areale im Parietalkortex aktivieren und Objekterkennungsaufgaben eher im Temporalkortex. Der parietale Verarbeitungsstrom dient der Steuerung von Handlungen und der Wahrnehmung von Bewegung und der Positionen des Körpers bzw. Objekte im Raum. Er wird daher oftmals als »Wo-Strom« bezeichnet. De temporale Strom dagegen ist von besonderer Bedeutung für die Farb-, Muster- und Formwahrnehmung und damit für die Objekterkennung. Er wird daher auch »Was-Strom« genannt. (Gegenfurtner 2011, 40)</p> </blockquote> <p class="itg_tools_paragraph">Diesen beiden ‘Strömen’ im visuellen System entspricht die grundsätzliche Opposition von Verben einerseits und Nomina (inklusive der Adjektive) andererseits im sprachlichen System. Es ist doch äußerst nahe liegend, hier einen Zusammenhang zu vermuten.</p> ]]></content:encoded> <wfw:commentRss>https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?feed=rss2&p=38155</wfw:commentRss> <slash:comments>2</slash:comments> </item> </channel> </rss>