Die Architektur der gegenwärtigen europäischen Sprachen besteht im Wesentlichen aus zwei Etagen, nämlich aus mehr oder weniger zahlreichen lokalen Dialekten, deren Zusammengehörigkeit durch den Bezug auf eine gemeinsame Standardvarietät gestiftet wird. Sowohl die Dialekte als auch der Standard sind in sich vollständige und potentiell selbstgenügsame sprachliche Systeme (und in diesem Sinn SPRACHEN). Die Standardvarietäten finden ihren prototypischen Gebrauch in der Schriftlichkeit, deren Erschließung als 'Ausbau' bezeichnet wird. Sprachen mit einer solchen ausgebauten und Standardvarietät werden verkürzend oft 'Ausbausprachen' genannt.
Metaphorisch wird die hierarchische Relation der beiden Etagen seit Heinz (Kloss 1978) metaphorisch als 'Überdachung' bezeichnet; nicht metaphorisch ist jedoch die räumliche Implikation des Ausdrucks: Diese, für ihre Historizität elementare Dimension der Einzelsprachen, ihre konkrete Verbreitung in spezifischen Räumen, wird in der zweistöckigen Modellierung evident; sie darf bei der Beschreibung und historischen Rekonstruktion nicht vernachlässigt werden.
In Erweiterung zu Kloss ursprünglicher Auffassung muss präzisiert werden, dass auch dominant oder ausschließlich mündlich gebrauchte und nicht standardisierte Varietäten, wie etwa eine Koinè, eine Überdachungsfunktion übernehmen können.
In sprachräumlicher Hinsicht lassen sich nun grundsätzlich zwei Überdachungskonstellationen unterscheiden. Im Fall vollkommen unterschiedlicher, d.h. genetisch nicht nahverwandter Sprachen sind die Unterschiede auf beiden Ebene eindeutig, so dass Dialekte der einen Sprachen unmöglich Dialekte der anderen sein könnten; ein Beispiel wären ungarische, rumänische und deutsche Dialekte in Siebenbürgen. Kloss spricht hier von 'Abstandsprachen'; in der folgenden Graphik wird die unmissverständliche Zusammengehörigkeit der jeweiligen Dialekte untereinander und mit der entsprechenden Standardvarietät farblich symbolisiert (gelb vs. rot vs. blau).
Dieser Fall ist jedoch im geschlossenen romanischen Sprachgebiet Mittel- und Westeuropas, der so genannten Romania continua, nirgends gegeben. Vielmehr ist die Zugehörigkeit der lokalen Dialekte zu Standardvarietäten und damit auch die sprachräumliche Architektur der Einzelsprachen weithin dem historischen Zufall geschuldet. Keineswegs ist diese Zugehörigkeit jedoch in einer besonders ausgeprägten Ähnlichkeit (d.h. in besonders geringem Abstand) der Dialekte untereinander begründet. Auch weit entfernte Dialekte, die zu ganz unterschiedlichen Einzelsprachen gehören weisen gemeinsame Merkmale auf, die auch durchaus nicht immer im gesamten Kontinuum zwischen diesen Dialekten belegt sein müssen, wie zum z.B. der Umlaut ('Metaphonie') im Romanischen; es gibt mit anderen Worten auf der Ebene der Dialekte keine scharfen Grenzen, die sich auf die Verbreitung der Standardvarietäten abbilden ließen. Andererseits unterscheiden sich die Standardvarietäten auf Grund ihrer Reglementierung und geringen Variationstoleranz sehr klar - gerade auch dann, wenn der Abstand zwischen ihnen quantitativ nicht sehr groß ist; schon wenige, womöglich ganz oberflächliche, wie etwa orthographische, aber hochfrequente Merkmale sind hinreichend. Im Hinblick auf geolinguistische Kontinua, die über die territoriale Geltung von Standardsprachen zoniert werden, ist das Kriterium des sprachlichen Abstands daher weithin irrelevant. Dazu das folgende Schema:
Hallo Herr Prof. Krefeld,
ist es sinnvoll in Abschnitt 3 den Begriff „Koinè“ mit dem Wikipedia-Link
https://de.wikipedia.org/wiki/Koine zu verknüpfen?
Viele Grüße
Wolfgang Lallinger