1. Das Ideologem der Bodenständigkeit1
Der AIS ist in der Romanistik ohne jeden Zweifel der Prototyp eines ethnolinguistischen Atlas. Allerdings zeigt er in exemplarischer Weise auch, welche ideologischen Grundannahmen in die Konzeption eingeflossen sind; als ‘ideologisch’ werden in dieser Vorlesung implizite oder explizite Werturteile bezeichnet, die im Widerspruch zum erklärten Forschungsziel stehen. Einzelne Bausteine womöglich komplexerer Ideologien heißen ‘Ideologeme’.
Die Herausgeber des AIS, Karl Jaberg und Jakob Jud, legen einen auf den ersten Blick immer noch aktuellen, - modern gesagt - mehrdimensionalen und variationslinguistischen Dialektbegriff zu Grunde, der neben der selbstverständlichen Dimension des ORTs, die ZEIT, die GENERATION, die soziale SCHICHT, das GESCHLECHT und den SPRACHKONTAKT berücksichtigt:
"Auch die lautliche Einheit der Dorfmundart ist ein Mythus. Man stelle der Form des Gewährsmannes A nicht die Form des Gewährsmannes B gegenüber, um zu beweisen, dass die Form von A ‘falsch’ ist. A und B können beide ‘recht haben’, d.h. beide Formen können an dem in Frage stehenden Orte usuell sein, ohne dass sich die Sprechenden dessen bewusst sind. Sie können einer älteren oder einer jüngeren, einer sozial höheren oder tieferen, der Männer- oder Frauensprache angehören. Wer kennt die Sprachgewohnheiten auch seiner engsten Heimat ganz? Man beachte auch, dass unsere Gewährsleute meist der älteren Generation angehören, oft aus abgelegenen Weilern stammen und daher hie und da einen altertümlicheren Sprachzustand repräsentieren als der Durchschnitt der Bevölkerung im Hauptdorf der Gemeinde." (Jaberg/Jud 1928, 216)
Daraus ergibt sich ein Forschungsziel das sehr klar und mit ungewöhnlichem Pathos formuliert wird:
"Man spricht gern von den ursprünglichen Verhältnissen einer Mundart. Wo fängt die Ursprünglichkeit an? Es gibt in der sprachlichen Betrachtung keine Bretterwand, hinter die man nicht schauen darf. ‘Ursprünglich’ kann bloß heißen ‘auf einer älteren Entwicklungsstufe stehend’. Wir wollen aber nicht eine ältere Entwicklungsstufe, also nicht die ‘ursprüngliche“ Mundart, sondern die letzte, die jüngste Entwicklungsstufe, die moderne Mundart mit allen Mischungen und Infiltrationen festhalten. Eine genuine Mundart gibt es so wenig wie es eine einheitliche Mundart gibt. ‘Genuin’ nennt man das, was zeitlich weit genug von uns entfernt ist, um uns seine Herkunft zu verheimlichen. ‘Ursprünglich’ und ‘genuin’ wird morgen sein, was uns heute als ‘jung’ und ‘importiert’ erscheint. Ein Sprachatlas ist mit seinen ‘jungen“ und ‘alten’, ‘aufstrebenden’ und ‘anormalen’ Sprachformen das getreue Abbild des Lebens, in dem Junge und Alte, Gereifte und Werdende, Herdenmenschen und eigenwillige Draufgänger am Webstuhl die Fäden zum bunten Zeitgewebe zusammenfügen." (Jaberg/Jud 1928, 241)
Die in den beiden vorhergehenden Zitaten unmissverständlich formulierte Einsicht in die dynamische Variabilität der Dialekte und die Normalität koexistierender Varianten hindert die Autoren jedoch nicht an einer scharfen, ideologischen Bewertung bestimmter Formen von Variation, je nachdem, ob sie von vermeintlich ‘guten’ oder ‘schlechten’ Informanten produziert werden. Der Wertmaßstab für gute Variation ist die Verbindung von Unabhängigkeit, beruflicher Selbständigkeit und bürgerlichem (‘Patrizier’) bzw. bäuerlichem Grundbesitz, d.h. soziale Sicherheit. Schlechte Variation wird dagegen mit Abhängigkeit und industrieller Lohnarbeit, d.h. mit sozialer Unsicherheit, oder: Prekariat assoziiert:
"Unser Fragebuch ist auf ländliche Verhältnisse zugeschnitten. So ergab es sich von selbst, dass als Auskunftgeber vor allem Bauern gewählt werden mussten, Leute, die wenigstens ein bisschen Landwirtschaft getrieben haben mussten oder solche, die mit den bäurischen Verhältnissen vertraut waren. Selbständig Erwerbende sind im Allgemeinen Abhängigen vorzuziehen; die schlechtesten Gewährsleute hat uns das landwirtschaftliche Proletariat der venetischen Ebene geliefert. Je fester der Bauer auf dem Eigenen sitzt, desto sicherer und bodenständiger ist auch seine Rede. Soziale Abhängigkeit erzeugt dem fremder Ausfrager gegenüber leicht eine gewisse Unterwürfigkeit, die der Zuverlässigkeit der sprachlichen Auskunft nicht zuträglich ist. Der Explorator wünscht nicht, dass man ihm zwei Ausdrücke zur Verfügung stellt mit der höflichen Bemerkung: „Come crede Lei“. Der sozial Abhängige passt sich in seiner Rede dem sozial Höherstehenden leichter an als der Unabhängige. Wer annähme, dass die Mundart einer sozialen Schicht umso origineller sei, je tiefer sie in der gesellschaftlichen Hierarchie steht, würde sich täuschen. Der Berner Patrizier spricht ein bodenständigeres Berndeutsch als der Arbeiter in einem Industriequartier. Grobheit ist nicht mit Bodenständigkeit zu identifizieren.
Ein ebenso großer Irrtum wäre es andererseits, Intelligenz und Bildung zu verwechseln. Bildung gefährdet den Bestand der Mundart, weil ihr Vehikel die Schriftsprache ist; Intelligenz drückt sich ebenso gut mundartlich wie schriftsprachlich aus. Gerade in Italien findet man auch in den untersten Klassen oft eine Begabung, der keine entsprechende Bildung zur Seite steht. Ungebildete und dabei auch unverbildete Menschen von natürlicher Intelligenz stellen nun aber für den Dialektologen die besten Auskunftgeber dar." (Jaberg/Jud 1928, 190)2
Der Schlüsselbegriff für die Qualitätssicherung von Daten und Informanten ist ihre ‘Bodenständigkeit’, womit die lokale Ausprägung des Dialekts und die Ortsfestigkeit des Sprechers gemeint ist; synonym ist von ‘alteingesessen’ und ‘alteinheimisch’ die Rede.
"Wichtig ist unter allen Umständen, dass der Gewährsmann im Dorfe geboren und aufgewachsen sei, und dass er aus einer alteinheimischen Familie stamme. Wir haben stets nach der Herkunft von Vater und Mutter gefragt und wenn möglich Sujets gewählt, deren beide Eltern alteingesessen waren." (Jaberg/Jud 1928, 191; Hervorhebung in der Quelle)
Die starke Idealisierung lokaler Immobilität erweist sich nun ganz eindeutig als ideologisch, denn sie führt zur konzeptionellen und methodologische Ausblendung der Mobilität der Sprecher, obwohl sie allenthalben im Untersuchungsgebiet konstatiert und als Quelle kulturellen und sprachlichen Wandels identifiziert wird.
2. Die Allgegenwart von Mobilität und Migration
Im Gegensatz zu den skizzierten optimalen Untersuchungsbedingungen des Dialektologen (im Sinne von Jaberg/Jud) steht die faktische Allgegenwart von Migration, sowohl auf der Ebene der Aufnahmeorte als auch der Informanten des AIS. Einschlägige Hinweise ergeben sich aus den sogenannten ‘Aufnahmeprotokollen’, in denen alle Orte und Sprecher*innen kurz profiliert werden. Hier ein Beispiel:
352 | (110) T o n e z z a, mand. Schio, prov. u. dioc, Vicenza - 20. bis 22. XII. 1921 - Qn - Phot. 610 |
Gemeinde: | Alle Männer wandern in den Sommermonaten als Arbeiter nach Deutschland, der Schweiz, Frankreich und Amerika aus. Die Frau trägt die Last der landwirtschaftlichen Arbeiten. |
Suj.3: | Gastwirt, Eltern alteinheimisch. - 54 - Ganz jung als Arbeiter in Belgien, 3 J. in Argentinien, 3 J. Heeresdienst. Vom Alter von 25 J. an immer im Dorf, mit Ausnahme von 3 ½ J., die er als Flüchtling in Schio zubrachte. Im Gasthaus des Suj. wohnte Fogazzaro, der ihn als ‘albergatore biondo’ im ‘Piccolo Mondo Moderno’ nachgezeichnet haben soll. Spricht bewusst die archaische Mundart. Obwohl er als praktischer Mann sich in allen Arbeiten des Handwerkers und Bauern gut auskennt, ist er doch in der landwirtschaftlichen Terminologie nicht überall gleich beschlagen. Die Mundart ist infolge der intensiven Auswanderung, in starker Umwandlung begriffen. |
(Jaberg/Jud 1928, 86) |
Der im Zitat erwähnte Informant entspricht mit seinem längeren Aufenthalt in Südamerika und dem gewiss auch nicht im Heimatort verbrachten längeren Militärdienst nur bedingt dem Ideal der ‘Bodenständigkeit’, aber vor dem Hintergrund der Feststellung, dass "[a]lle Männer [...] in den Sommermonaten [...] aus[wandern]", ist er gerade repräsentativ für den Ort und ein wirklich ortsfester Informant wäre hier vollkommen untypisch gewesen. Es steht außer Frage, dass die berichtete kollektive saisonale Arbeitsmigration massive alltagsweltliche, d.h. ethnolinguistisch relevante Auswirkungen mit sich bringt, die im zitierten Protokoll ebenfalls angedeutet werden. Sie betreffen die Geschlechterrollen ("Die Frau trägt die Last der landwirtschaftlichen Arbeiten") und den Dialekt (" in starker Umwandlung"); allerdings bleibt unklar, wieso die Migration als Ursache des Sprachwandels ausgemacht wird: Steht ein verändertes, weniger dialektbasiertes Sprachverhalten der Migranten, d.h. der Männer dahinter? In jedem Fall schlägt sich beschleunigter Wandel in zunehmender Varianz und sprachlicher Unsicherheit der Sprecher nieder - in den Erscheinungen also, die der "Explorator [nicht] wünscht", wie es im oben zitierten Ausschnitt (Jaberg/Jud 1928, 190) heißt.
Der Ort ist übrigens durchaus keine Ausnahme im Netz der AIS-Aufnahmepunkte, wie die Gesamtauswertung auf der folgenden Karte eindrücklich zeigt; im Spiegel der AIS-Erhebungen erweist sich ganz Italien bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts als Emigrationsland.
Vor diesem Hintergrund fragt man sich, welchen Sinn es hat, das Prinzip der Bodenständigkeit grundsätzlich aufrechtzuerhalten und bei typischen Auswanderungsorten nicht andere ethnolinguistische Maßstäbe anzulegen. Dafür spricht auch die Tatsache, dass sich die eher negativen Auswirkungen der Migration auf die etablierten Geschlechterrollen in anderen Orten bestätigt.
"Es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass in Italien Frauen aus mittleren und unteren Klassen im allgemeinen die zuverlässigsten Vertreter der einheimischen Mundart sind, da sie weniger reisen, die periodische Auswanderung meist nicht mitmachen, Einflüssen von aussen weniger ausgesetzt sind als die Männer, in den Alpen oft auch die landwirtschaftliche Terminologie besser kennen als diese. Scheuermeier und Rohlfs haben denn auch, wo sie intelligente Frauen gewinnen konnten, mit diesen ausgezeichnete Erfahrungen gemacht [...]. Leider stellen sich in Italien Frauen höchst selten zur Verfügung, weil sie zu stark im Haushalt oder bei der Landwirtschaft beschäftigt sind, weil es ihrem Anstandsgefühl widerspricht tagelang mit einem Manne zusammenzusitzen, oder weil es der eifersüchtige Mann direkt verbietet. Andererseits ist die für die Aufnahme unentbehrliche Kenntnis der Gemeinsprache bei den Frauen viel weniger verbreitet als bei den Männern. Endlich fühlt sich die Frau besonders in Auswandererorten oft als inferiores Wesen, wird auch vom Manne als solches behandelt [...]" (Jaberg/Jud 1928, 189 f.)
In ethnolinguistischer Hinsicht wäre es interessant gewesen zu erfahren, ob die erwähnte Herabsetzung der Frau in Emigrationskontexten mit der Übernahme traditioneller Männerarbeit im Gefolge der Emigration der Männer zusammenhängt und / oder ob gerade die ausgeprägte Dialektalität, d.h. womöglich der dialektale Monolinguismus der Frauen dafür verantwortlich ist. Es scheint, als ob die Migrationserfahrung und -routine die Männer dazu verleitet ihre im Herkunftsort bleibenden Frauen mit dem Makel kultureller und sprachlicher Rückständigkeit zu assoziieren. Der historische Zusammenhang zwischen Massenmigration und Sprachwandel in den Herkunftsgebieten wurde niemals systematisch aufgearbeitet, obwohl der AIS, gewissermaßen nebenbei, wertvolle ethnolinguistische Hinweise für die Rekonstruktion der italienischen Migration während der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts liefert. Davon hat die Forschung nicht wirklich Kenntnis genommen. In der folgenden Übersicht wird ein Teil der einschlägigen Bemerkungen, nämlich diejenigen zu den Aufnahmeorten in den Alpen und am südlichen Alpenrand, zusammengestellt:
Tessin und Graubünden | |
P 7 Ardez (Unterengadin) | "Wenig Auswanderung, früher nach Deutschland, jetzt eher nach Italien als Zuckerbäcker und Ladendiener". |
P 31 Osco (distr. Leventina) | "Infolge starker Auswanderung ist die Gemeinde sprachlich modernisiert". |
P 35 Bivio (Oberhalbstein) | "Einwanderung von Bergeller Familien" |
P 42 Sonogno (distr. Locarno) | "Der frühere Gergo der periodisch auswandernden Kaminfeger ist fast ganz erloschen". |
P 45 Soglio (Bregaglia) | "Die Bewohner besitzen auch Güter im Oberengadin, östlich von Maloja (= i sʊlváːtak), so dass ein beständiges Hin- und Herwandern der Bauern notwendig ist." |
P 44 Mesocco (Graubünden) | "Starke Auswanderung nach Frankreich". |
P 47 Fex-Platta (Oberengadin) | "Neben alteingesessenen romanischen Familien haben sich Familien aus dem Bergell niedergelassen, die z.T. ihre bergellische Mundart beibehalten". |
P 58 Sommaino (Poschiavo) | "Früher wanderten die Puschlaver (Poschiavini) als Schuhmacher nach Oberitalien aus". |
P 70 Indemini (distr. Locarno) | "Starke Auswanderung in die deutsche Schweiz". |
P 73 Corticiasca (distr. Lugano) | "Männer wandern oft als Maurer in die deutsche Schweiz aus". |
Ligurien | |
P 190 Airole (IM) | "Die Männer wandern aus". |
Piemont | |
P 124 Selveglio (NO) |
"[Sujet v]om 14. J. an in Saint-Amour (Jura), wohin die Männer der Familie seit 200 J. periodisch auswandern. Suj. arbeitet während 32 J. stets in der franz. Gemeinde, im Winter kehrte er jeweilen in sein Heimatdorf zurück". |
P 132 Ronco Canavese (TO) | "Die meisten Dorfbewohner wandern als Glaser nach Paris aus; die Männer aus den oberen Gemeinden des Tals wandern als Kesselflicker in Oberitalien herum". |
P 144 Corio (TO) | "In den Monaten November und Dezember gehen die Männer als Hechler in die piemontesische Ebene". |
P 150 Sauze di Cesana (TO) | "Gemeinde in fruchtbarem Tal mit starkem Getreideanbau; reich. Männliche Bevölkerung wandert besonders nach Marseille aus". |
P 161 Ostana (prov. di Cuneo) | "Bergdorf mit starker Abwanderung nach Frankreich. Im Anfange des Winters gehen die Männer häufig als Hechler in die Ebene. Sie sprechen einen Berufsgergo". |
Ligurien | |
P 190 Airole (IM) | "Die Männer wandern aus". |
Lombardei | |
P 205 Prestone (Prov. Sondrio) | "Bewohner früher Wanderarbeiter, während des Winters in der Ebene (häufig als Schnapsbrenner)" |
P 229 Sonico (Prov. Brescia) | "Starke Auswanderung" |
P 231 Arcumeggia (Prov. Corno) | "Wie das ganze Val Cuvio, das modern anmutet, weist auch Arcumeggia, mit armer Bevölkerung, starke Auswanderung der arbeitsfähigen Männer als Maurer in die Schweiz auf. Weitgehende Mundartmischung, insbesondere bei der männlichen Bevölkerung". |
Trentino, alpines Veneto, Friaul | |
P 307 Padola, Comelico Superiore (Prov. Belluno) | "Die Männer wanderten vor dem Kriege als Kesselflicker nach Deutschland, Österreich und der Schweiz aus. Auf den Schultern der Frauen lastet die Feldbestellung. Die Frauen haben offenbar auch die alte Mundart zäher festgehalten". |
P 310 Piazzola (Prov. Trient) | "Die Männer wandern als Säger nach Deutschland und Amerika aus". |
P 311 Castelfondo (Prov. Trient) | "Starke Auswanderung nach Amerika". |
P 313 Penia (Prov. Trient) | "Die Männer wanderten vor dem Kriege als Maler nach Deutschland, Deutschösterreich und der Schweiz aus". |
P 317 Pozzale (Prov. Belluno) | "Die Männer wandern als Minenarbeiter, Bauhandwerker und Hausierer in alle Teile der Welt, während den Frauen der ganze landwirtschaftliche Betrieb obliegt. Große Schwierigkeiten einen geeigneten Gewährsmann zu finden". |
P 318 Forni Avoltri (Prov. Udine) | "Starke Auswanderung besonders in die Schweiz". |
P 320 Pejo (Prov. Trient) | "Die Männer ziehen als Kupferhändler und Kesselflicker in Italien umher, während die Frauen die Feldarbeit besorgen. Die alte Mundart ist in vollem Untergang begriffen". |
P 325 Cencenighe (Prov. Belluno) | "Die Männer wandern als Maurer aus". |
P 326 Claut (Prov. Udine) | "Die Männer gehen als Maurer und Bauhandwerker nach Deutschland, Frankreich, Amerika. Im Winter fabrizieren sie Holzgeschirr, Löffel u. dgl., mit denen die Frauen in Oberitalien und im benachbarten deutschsprachigen Gebiet hausieren". |
P 328 Tramonti di Sotto (Prov. Udine) | "Alle Männer wanderten früher als Kesselflicker und Spengler in Italien, Österreich und im Balkan herum; jetzt meist als Maurer und Handlanger im Ausland". |
P 330 Mortaso (Prov. Trient) | "Starke Auswanderung; Einwohner gingen früher als herumwandernde Scherenschleifer häufig in die Schweiz, jetzt eher als Arbeiter nach Amerika". |
P 331 Stenico (Prov. Trient) | "starke periodische Auswanderung von Winterarbeitern, die als Säger in der Ebene tätig sind". |
P 332 Faver (Prov. Trient) | "ärmliche[...] Dörfer, die unter starker Auswanderung leiden und mundartlich modernisiert sind". |
P 333 Citadella (Prov. Trient) | "Starke Auswanderung nach Amerika". |
P 338 Adorgnano (Prov. Udine) | "Starke Auswanderung". |
Zusammenfassend vermittelt die Übersicht die folgenden Erkenntnisse:
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- Saisonale Arbeitsmigration kann eine jahrhundertelange Tradition haben (P 124).
- Die damalige Emigration war eine Option der Männer; nur in einem Fall (P 326) ist ausdrücklich von Arbeitsmigration der Frauen die Rede.
- Die Arbeitsmigranten entwickelten je nach Dorf unterschiedliche berufliche Spezialisierungen (P 42, P 58, P 73, P 231, P 132, P 144, 161, P 307, P 310, P 313, P 317, P 320, P 325, P 326, P 328, P 330, P 331).
- Im Zusammenhang mit den migratorisch ausgeübten Tätigkeiten wurden in manchen Fällen besondere Fach- und Gruppensprachen, so genannte gerghi, entwickelt (P 42, P 161).
- Migration hat Sprachwandel zur Folge, der als "Mundartmischung" (P 231) oder Modernisierung (P 332) charakterisiert wird; im Extremfall führt sie zum "Untergang" des Dialekts (P 320).
- Die nicht migrierenden Frauen erweisen sich im migrationsbedingten Sprachwandel als konservativ (P 307).
Ohne dass die Exploratoren besonderes Augenmerk auf die diversen Migrationsszenarien gerichtet hätten, eröffnen die genannten Tätigkeiten Fenster in komplexe ethnolinguistische Zusammenhänge, die oft eigene Studien verdienen, wie nur exemplarisch angedeutet werden kann. Zum Dorf Penia (P 313, Prov. Trento) heißt es ein wenig lapidar: "Die Männer wanderten vor dem Kriege als Maler nach Deutschland, Deutschösterreich und der Schweiz aus." Dahinter steht die kunstgeschichtlich bemerkenswerte Tradition der lombardischen und trentinischen Wandermaler; speziell das Dorf Mazzin gilt als paese dei pitores; es wäre sicherlich lohnenswert die im folgenden Zitat erwähnten Texte ("Postkarten") als Korpus aufzubereiten:
"Die Fassaner Maler wandern zu Fuß durch die Dolomitentäler und über die Alpenpässe nach Norden. Sie arbeiten in Vorarlberg, Tirol, im Salzburger Land und in Südbayern ebenso wie in der Steiermark und in Kärnten. Ihre Spuren finden sich auch in der Schweiz und selbst in Ungarn. Postkarten - oftmals handgemalt - berichten über Reiseziele, Kontakte und Erlebnisse der Maler. Die Wanderschaft der Männer bürdet den Frauen im Fassatal zusätzlich zu Haushalt und Familie die gesamte Feldarbeit auf." (Museumladin 2018; Link)
Im Fall von Claut (P 326, Prov. Udine) heißt es, es würde im Winter "Holzgeschirr, Löffel u. dgl." hergestellt; eine Schöpfkelle wird auf italienisch als cazza bezeichnet; im deutschsprachigen Absatzgebiet wurden die damit handelnden Hausierer als Kazzemacher bezeichnet, was volksetymologisch umgedeutet und zum Schimpfwort Katzlmacher ‘Italiener, Ausländer’ wurde. Mehrfach wird das Baugewerbe erwähnt; dazu wäre im Einzelnen sehr viel zu sagen. Gut aufgearbeitet wurde insbesondere die Tradition der friaulischen Ziegler, die in Bayern, auch in München, bis zum Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt haben. Allein in der Gegend um Vilsbiburg konnten die Namen "von mehr als 2.300 italienischen Ziegelarbeitern" dokumentiert werden (Quelle; vgl. auch Grasmann).
Eine Städtepartnerschaft in Ernnerung an die friaulischen Ziegler
■ Vilsbiburg
■ Buja
Mit den "Zuckerbäckern" (P 7) wird ein ganz typischer bündnerischer Wanderberuf angesprochen (vgl. swissinfo 2009)); ein bekanntes Beispiel war das Café Schucan im westfälischen Münster (Link).
Fazit: Es ist im Rückblick geradezu erstaunlich zu sehen, wie die Migrationsgeschichte der Gemeinden mit großer Selbstverständlichkeit systematisch notiert und in ihrer linguistischen Relevanz erkannt wurde, ohne darin einen spezifischen Forschungsgegenstand zu entdecken. Der ideologisch fest verankerte Grund liegt offenkundlich darin, dass Migration per se als destabilisierend und die dialektale Vielfalt bedrohender Faktor angesehen wurde.
Bibliographie
- AIS = Jaberg, Karl / Jud, Jakob (1928-1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, vol. 8, Zofingen (Link).
- Bade 2000 = Bade, Klaus J. (2000): Europa in Bewegung: Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München, Beck.
- Grasmann = Grasmann, Lambert: Ziegelpatscher und Ziegelbrenner im Vilsbiburger Land II. Friaulische Ziegelarbeiter ("fornaciai friulani") im Vilstal (deutsch und italienisch), in: Vilsbiburger Museumsschriften, vol. 6, Vilsbiburg.
- Jaberg/Jud 1928 = Jaberg, Karl / Jud, Jakob (1928): Der Sprach- und Sachatlas als Forschungsinstrument. Kritische Grundlegung und Einführung in den Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, Halle (Saale), Niemeyer.
- Krefeld 2002a = Krefeld, Thomas (2002): Migration, Sprachbewusstsein und Wissenschaftsideologie - über dynamische Räume und ihre statische Beschreibung. Download (PDF, ca. 9,1 MB), in: Schubert/Ehlich 2002, 145-170 (Link).
- Krefeld 2005d = Krefeld, Thomas (2005): Dialetto, variazione linguistica — e l'AIS. Come l'ideologia ha (de)formato la modellazione dello spazio linguistico, in: Romanistisches Jahrbuch, vol. 55, 83-103 (Link).
- Museumladin 2018 = Museumladin (2018): Handwerk, St. Martin in Thurn, Museum Ladin Ćiastel de Tor (Link).
- Schubert/Ehlich 2002 = Schubert, Venanz / Ehlich, Konrad (Hrsgg.) (2002): Sprachen und Sprachpolitik in Europa, Tübingen, Stauffenburg.
- swissinfo 2009 = swissinfo (2009): Die süsse Versuchung in der Fremde, SRG (Link).