1. ... seit Kain und Abel
Es war die Vermutung geäußert worden, hinter dem zurückhaltenden Umgang mit der zeitgenössischen Arbeitsmigration in der klassischen Dialektologie stünden (auch) uneingestandene ideologische Wertungen, genauer gesagt: die negative Einstellung zur modernen, tendenziell städtisch geprägten Arbeitswelt. Es ist jedoch möglich, dass eine noch deutlich tiefer´ sitzende Blockade zugrunde liegt, nämlich der bereits seit der frühen europäischen Antike zu beobachtende Gegensatz zwischen mobilen und immobilen Kulturen, konkret: zwischen Ackerbauern und Hirten. In mythischer Perspektive begegnet er uns bereits in der christlichen Schöpfungsgeschichte, in Gestalt des tödlichen Konfliktes zwischen den beiden Söhnen des ersten Menschenpaares Adam und Eva (1.Mose 4, 1-16; Link): Der Erstgeborene, Kain, wird Bauer; der zweitgeborene, Abel, wird Hirte. Beide bringen Gott ein Opfer vom Ertrag ihrer Arbeit; aber Gott nimmt das Opfer Kains, Feldfrüchte, gar nicht zur Kenntnis und beachtet nur das Opfer Abels, ein fettes Lamm. Darauf erschlägt Kain seinen Bruder vor Eifersucht. Gott verbannt ihn aus der Gegend, die er unfruchtbar werden lässt. Er schützt jedoch Kain, der Angst hat nun ruhelos umherziehen zu müssen, so dass Kain sich in einer anderen Gegend niederlassen und eine Stadt errichten kann. Man wird den Hirten Abel mit mobiler Kultur und den Bauern Kain mit sesshafter Kultur assoziieren dürfen versteht, so dass sich ein Abgrund zwischen beiden Lebenswelten auftut. Für den Bauern ist es ein Schreckbild "rastlos und ruhelos" umher zunziehen, denn er strebt unbedingt nach Niederlassung. Gott befriedet beide Welten, ohne sie zu verbinden. Und sein Wohlgefallen am Opferlamm entspricht einem Gottesbild, das sich gerade nicht als Projektion einer agrarisch dominierten Kultur erklären lässt. Ganz eindeutig ackerbäuerlich zentriert sind im Gegensatz dazu zum Beispiel der griechische Demeterkult (Link) und die ihm entsprechende römische Verehrung der Ceres.
2. Formen mobiler Viehwirtschaft
Die Übersicht der lokalen Migrationsgeschichte, die sich in den Aufnahmeorten des AIS dokumentiert (Link), hatte sehr unterschiedliche Formen ans Licht gebracht; darunter ist ein spezieller Fall, der noch nicht angesprochen wurde; es handelt sich um:
P 35 Bivio (Oberhalbstein) ■ (1.770 m) | "Einwanderung von Bergeller Familien" |
P 45 Soglio (Bergell/Bregaglia) ■ (1.090 m) |
"Die Bewohner besitzen auch Güter im Oberengadin, östlich von Maloja (= i sʊlváːtak), so dass ein beständiges Hin- und Herwandern der Bauern notwendig ist." |
P 47 Fex-Platta (Oberengadin) ■ |
"Neben alteingesessenen romanischen Familien haben sich Familien aus dem Bergell niedergelassen, die z.T. ihre bergellische Mundart beibehalten". |
Karte 1:
Bivio (Oberhalbstein) ■, Soglio (Bergell/Bregaglia) ■, Fex-Platta (Oberengadin) ■
Alle drei Orte liegen sehr hoch, aber Bivio und Fex-Platta noch einmal erheblich höher als Soglio. Der Grund für Bauern in eine Höhe knapp unterhalb der Baumgrenze zu ziehen, kann nur in der viehwirtschaftlicher Nutzung liegen. In zahlreichen Gebieten der Alpen liegen ja in dieser Höhe bereits Almen, die nicht ganzjährig, sondern nur saisonal gewohnt und genutzt werden können. Das Fextal, wo Fex-Platta liegt, gehört zu den seltenen Gegenden, die bereits seit langer Zeit sowohl ganzjährig als auch saisonal bewohnt sind; Bivio bietet sehr weitläufiges Almgelände. Die Orte machen also darauf aufmerksam, dass ackerbäuerliche und viehwirtschaftliche Nutzung ganz unterschiedliche Anforderungen stellen, zu denen im Fall der Viehwirtschaft schnell auch die Mobilität gehört.
Neben der - nicht überall möglichen - ortsfesten, stationären Viehhaltung unterscheidet man in der Regel drei Grundtypen viehwirtschaftlicher Mobilität:
- Almwirtschaft;
- Transhumanz;
- Nomadismus.
Sie werden gelegentlich unter den Ausdruck ‘Fernweidewirtschaft’ zusammengefasst (vgl. Beuermann 1967), der für den Nomadismus allerdings nicht treffend ist, denn in diesen Kulturen sind die Menschen ja stets in unmittelbarer Nähe ihrer Weidegebiete. Je nach der Gegend variieren die Kategorien, und es ist auch mit Übergangsformen zu rechnen. Die relevanten Kriterien sind die zurückgelegten Distanzen, die topographischen und klimatischen Bedingungen sowie die ökonomischen und sozialen Verhältnisse. In West- und Mitteleuropa sind die Transhumanz und vor allem der Nomadismus weithin nur noch historisch zu belegen; auch aus diesem Grund wird ihre kulturgeschichtliche Bedeutung oft stark unterschätzt. Im Hinblick auf Südosteuropa, wo beide Kulturen ebenfalls in starkem Rückgang sind, hat Thede Kahl (2008) auf der Basis der ethnologischen Literatur und ausgiebiger eigener Feldforschung folgende Typologie entwickelt:
Die in allgemeinen Definitionen der Transhumanz (vgl. z.B. Vocabolario Treccani, s.v. transumanza) in der Regel angeführte Bewegung über weite Strecken und zwischen unterschiedlichen Klimazonen/Höhenstufen (Gebirge ↔ Ebene) fehlen in dieser Übersicht.
2.1. Almwirtschaft
In der, jedenfalls im Alpenraum, gut erhaltenen Tradition der Almwirtschaft1 wird das Vieh im Jahresrhythmus vom Tal auf unterschiedliche Höhenstufen und wieder zurück gebracht; je nach Höhenunterschied werden 2, 3 oder noch mehr Höhenstufen bezogen; Almwirtschaft ist stark auf die Milchverarbeitung spezialisiert, obwohl es auch Almen gibt, auf denen ausschließlich Jungvieh oder Tiere gehalten werden, die nicht der Milchwirtschaft dienen, insbesondere Pferde. Die mit der Almwirtschaft verbundene Mobilität - der Almauftrieb und -abtrieb - wird in zahlreichen Orten des Alpenraums feierlich begangen. Die Almwirtschaft ist wohl die einzige Form mobiler Viehwirtschaft, die in den ethnolinguistischen Atlanten bis zu einem gewissen Grad systematisch dokumentiert wurde; eine ausführliche Darstellung ist im vorliegenden Beitrag nicht nötig, da der detaillierte Artikel alp des beutenden Schweizer Ethnographen Richard Weiss im DRG allgemein zugänglich ist (Link). Man vergleich auch die einschlägigen Karten auf der Seite von VerbaAlpina (Krefeld/Lücke 2014-). Es soll aber wenigstens auf das mutmaßlich sehr hohe, bis in die Bronzezeit reichende Alter der almwirtschaftlichen Nutzung des Hochgebirges hingewiesen werden (vgl. Reitmaier 2017). Sprachwissenschaftliche Befunde erlauben uns selbstverständlich keinen Blick in diese frühe Zeit, aber immerhin sind unter den einschlägigen Bezeichnungen einige, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus vorrömischen Sprachen erhalten haben. Emblematisch ist der Typ malga, der je nach Gegend die ALM ALS GANZES oder wesentliche Elemente der Almwirtschaft, nämlich die HÜTTE oder die HERDE und durch Derivationen den SENN bezeichnet (vgl. diese Karte). Aber vorrömisch sind auch ital. baita ‘Hütte’ (Karte), deu. Senn ‘für die Milchverarbeitung verantwortliche Person’ (< *sanio; Karte), fra. tomme ‘Käse’ (< *toma; Karte) u.a.
2.2. Transhumanz
Auch auf diesen speziellen Typ saisonaler Migration, der eine komplexe Organisation der Mobilität erfordert, weist der AIS auf mehreren Karten zumindestens am Rande hin, und sei es nur im Sinne einer lokalen Erinnerung in manchen Aufnahmeorten (vgl. AIS 1068 LA PECORA und AIS 1072 IL BRANCO DI PECORE) . Wirklich abgefragt wurde diese alte und einst weit verbreitete kulturelle Praxis jedoch nicht, so dass sich keine exakten räumlichen Verbindungen zwischen den Ausgangs- und Endpunkten der Transhumanz ermitteln lassen; selbst die Bezeichnungen des transhumanten Schafhirten werden auf keiner Karte dokumentiert. Immerhin zeichnet sich als Winterweidegebiet der Herden die Poebene ab:
Karte 2: Winteraufenthalt von Schafherden in der Po-Ebene
Herkunft aus den Alpen ■, aus dem Trentino oder Friaul ■, aus den Bergamasker Alpen ■, nicht spezifiziert■ (gemäß AIS 1068, 1072)
2.2.1. Die Bergamasker Schafhirten
Besondere Aufmerksamkeit verdient der auf der Karte grün markierte Punkt, denn dort wird mit den Bergamasker Alpen ein genaueres Herkunftsgebiet genannt. Eine Recherche führt schnell zu dem vor allem in der Schweiz traditionell gut bekannten Begriff des ‘Bergamasker Hirten’ und seiner vielfach bezeugten Präsenz in Graubünden. Es existiert sogar eine spezielle engadinische Bezeichnung (taschin) :
"Die höchsten, unfruchtbarsten und wasserärmsten Weiden genügen noch als Schafalpen (alp de nuorsas, munt da la bescha). Bis zu Beginn dieses Jahrhunderts wurden sie, besonders im Engadin, vielfach an Bergamaskerhirten (→ taschins) verpachtet; heute bleiben viele auch wegen des allgemeinen Rückganges der Schafhaltung unbestossen." (DRG, s.v. alp; Link)
Diese Tradition ist in historischen Quellen durchaus zu greifen; eine kurze, aber bemerkenswerte Beschreibung liefert Albertini von Tamins 1781. Der Verfasser gibt Informationen, die er während eines längeren Aufenthalts auf dem Splügnerberg, d.h. in der Gegend um den Splügenpass (Link), bei den Hirten selbst gesammelt hat.
"Die Anzahl der sämtlichen diesjährigen Schaafe (1781) auf dem Splügner=Berg belauft sich über 900. Mit diesen kommen die Schäfer anfangs Juni aus Piemont auf bemeldten Berg" (Albertini von Tamins 1781, 301)
Schon die allgemein Charakterisierung zeigt, dass diese alpine Form der Transhumanz nicht der oben zitierten Typisierung entspricht, die Thede Kahl für Südosteuropa vorgeschlagen hat, denn die - modern gesagt - genossenschaftlich organisierten Bergamasker Schäfer sind gleichzeitig Besitzer (eines Teils) der betreuten Schafe:
"Alle die Schäfer oder Besitzer der Schaaf=Heerden, welche in unsere Alpen kommen, sind in der Gegend um Bergamo zu Haus, sie sind beinahe alle miteinander verwandt und haben meistens ihre Heerden ererbt; denn diese Art unsere Alpen zu benutzen ist schon seit Jahrhunderten gewöhnlich und hat sich meist unter den Nachkommen des gleichen Hauses erhalten.
Eine Heerde gehört mehreren Eigenthümern in Gemeinschaft [...] sie stehen zusammen in einem wirklichen Societäts=Handel" (Albertini von Tamins 1781, 300)
Die Alpflächen waren keineswegs frei zugänglich, sondern es mussten Pachtverträge mit den Gemeinden abgeschlossen werden; zusätzlich fielen Zollgebühren für jedes Tier an (vgl. Albertini von Tamins 1781, 302). Die wichtigsten Zollstellen am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts lagen in Chiavenna (deu. Cläven), dem Ausgangspunkt für zwei Passwege (Splügen, Septimer; Karte), und in Poschiavo (deu. Puschlav), wo die Straße nach Norden über den Berninapass beginnt:
"Die Schafe, die den Puschlaver Zoll passiren, sind gewöhnlich bey 20 bis 30,000; nur in den letzten Jahren haben sie etwas abgenommen. Diesen Weg (über Bernina) nehmen auch alle in Engadin ziehende Bergamasker=Heerden." (Anonymus 1808, 233)
Als Herkunftsgebiet der Bergamasker Schafhirten werden die nördlich von Bergamo gelegenen Val Seriana und Val Brembana identifiziert. Allerdings - ein weiterer Unterschied zur südosteuropäischen Transhumanz - werden die Herden nicht von den Heimatdörfern in den Bergamasker Alpen zu den Sommerweideplätzen in Graubünden (und zurück) getrieben, sondern von weiter südlich, in der Poebene, gelegenen Winterweideplätzen:
"Ist die Alpweide zu Ende und alles berichtiget, so ziehn sie in der nemlichen Ordnung in welcher sie gekommen wieder nach Piemont ihrem Winter=Aufenthalt zu, Auf der Rückreise aber verweilen sie sich mit ihrer Heerde in dem Orte Burgosesio, um die Schafe scheren zu lassen.
Hier treffen um die gleiche Zeit alle dergleichen Heerden ein.
Nachdem sie an bemeldtem Ort geschoren worden sind, wird die Wolle erst gewaschen, und dann an die Tuchmanufacturen verkauft, welche sie zu Uniformen für die Italienischen Armeen verarbeiten." (Albertini von Tamins 1781, 305)
Der genannte Ort Burgosesio dürfte Borgosesia bei Vercelli entsprechen; diese Gegend ist bis heute für ihre Woll- und Textilverarbeitung berühmt. Die Bergamasker Tradition setzt auch im Winter wiederum Pachtgebiete voraus, die von den Schäfern finanziert werden müssen:
"In Piemont haben sie große Auen gepachtet, in denen sie ihre Schaafe, so wie in der Alp vertheilen, nur mit dem Unterschied daß sie solche des Abends in Horden oder Einzäunungen einschließen, und durch die Hunde bewachen lassen [...] Den Winter und Sommer durch gehen die Schäfer wechselsweis auf einige Zeit aus Piemont nach Haus, die Schaafe aber kommen das ganz Jahr nicht in ihrer Patronen Vaterland." (Albertini von Tamins 1781, 306)
Eine etwas neuere Quelle von 1808 präzisiert, dass außer Piemont auch lombardische Winterweideplätze angesteuert werden (so wie es sich bereits in der obigen Auswertung der AIS-Karte angedeutet hat). Die Herden verbringen
"den Winter in den zahmern Ebenen des Piemontesischen, oder bey Brescia, Crema und im untern Mailändischen, an den Ufern des Tessins, zu; daher vermuthlich heißen die Schäfer Tessini (im Engadin Taschins)." (Anonymus 1808, 217)
Die Bergamasker Transhumanz scheint also ökonomisch durchaus lukrativ gewesen zu sein:
"Ihren Nutzen ziehen diese Schäfer aus den verschnittenen Widdern, der Wolle, dem Zieger und dem Käs, den sie machen, welches alles sie genugsamen Anlas haben für baares Geld zu verkaufen, denn kaum sind sie in der Alp, so kommen Metzger von Zürich und Glarus, um fette Widder zu kaufen " (Albertini von Tamins 1781, 303)
Die Größe der Herden war stattlich:
"nicht selten sind deren unter ihnen, welche viele tausende besitzen" (Albertini von Tamins 1781, 301),
und der Absatz der Wolle war zur Zeit, über die berichtet wird, gesichert:
"Zu Cluson, einem großem Marktflecken im Thale Seriana, befnden sich viele Wollentuch=Fabriken: die Bewohner der Berge und Nebenthäler treiben das Gewerbe als Schafhirten. Während der Hausvater den Sommer auf unseren Alpen zubringt, wird die Heuerndte und das wenige Kornfeld von den übrigen Hausgenossen besorgt. So hat sich das wandernde Hirtenleben fast durchgehends unter den Nachkommen dergleichen Familien erhalten, und die meisten dieser Hirten sind miteinander verwandt."(Anonymus 1808, 210)
Auch die Milchverarbeitung wird beschrieben. Obwohl die Bergamasker Schafrasse nicht auf die Milchproduktion spezialisiert war, wurden sehr beliebte Käsearten von hervorragender Qualität hergestellt, die sich offenkundig gut verkauften und wegen ihrer hohen Haltbarkeit auch über weite Entfernungen gehandelt werden konnten:
"Da ein sehr gutes Schaaf nur 5 bis 6 Eßlöffel Milch zum Tag geben mag, und also etwann 300 ein kleines Geschirr oder Gebse füllen mögen, so nehmen sie Kühe=Milch dazu indem sie immer 12 bis 15 Kühe um | die Milch in die Alp nehmen, und von vier Gebsen, die sie immer zum Käsen nehmen, sind 3 Kühe=Milch und nur eine Schaafmilch" (Albertini von Tamins 1781, 303 f.)
Die Beschreibung in (Anonymus 1808) liefert einen recht exakten Überblick, wo Bergamasker Hirten im Jahr 1808 anzutreffen waren. Die Gemeinden mit entsprechenden Verpachtungen, wenngleich nicht die einzelnen Almen, zeigt die folgende Karte:
Karte 3: Bergamasker Hirten in Graubünden
Gemeinden mit (teils mehrfacher) Alp-Pachtung im Jahre 1808 ■, früher ■
Herkunftstäler ■ (Quelle: Anonymus 1808)
Ort der Schur ■ (Quelle: Albertini von Tamins 1781, 305)
Die geschichtliche Dimension der weiträumigen Bergamasker Transhumanz mit Schafherden ist nicht ganz klar; ihre eher kleinräumigen Ursprünge lassen sich bis ins VIII Jahrhundert zurückverfolgen, aber die Transhumanz als solche dürfte im Alpenraum überhaupt antik, genauer gesagt: bereits vorrömisch sein (vgl. PecoraBergamasca 2020); man beachte, dass auch manche romanische Bezeichnungen des SCHAFs, wie surs. nuorsa und, vielleicht, surs. tschut(ta) vorrömischen Ursprungs sind (vgl. Decurtins o.J., s.v.). Die weiträumige Ausdehnung hat jedoch im Fall der Bergamasker mit der spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Intensivierung der Rinderzucht zu tun: Die Schafhalter wurden so in die für Kühe nicht nutzbaren Hochlagen abgedrängt:
"I bergamini [vgl. DEFAULT], infatti, continuano, di regola, a risalire in montagna in estate. Ai pastori restavano le fasce più elevate degli alpeggi, quelle più dirupate, sassose, con erba corta. A meno di… ampliare il raggio della transumanza. Così i pastori bergamasco-camuni presero a dirigersi, in estate, verso le alpi piemontesi (non solo quelle a Nord che erano ancora parte dello stato di Milano, ma anche quelle a Sud-Ovest della provincia di Cuneo), verso la Valtellina (dominio grigione dal 1512), verso il Tirolo, verso la Svizzera. In inverno si dirigevano verso le aree di pianura e collinari del Piemonte e dell’Emilia." (PecoraBergamasca 2020)
Speziell die Bergamasker Tradition spiegelt sich im Übrigen auch in unterschiedlichen Schafrassen der Zentral- und Ostalpen wider:
"La presenza dei pastori bergamaschi in altre regioni dell’arco alpino ha determinato lo sviluppo di razze derivate: la biellese, la tirolese, la razza di Saas del Vallese, influenzandone anche altre (la carinziana kartner brillenschaft2, analoga alla tingola trentina), la slovena sokavsko-jerzersta, l’appenninica). Un’area che ha giocato il ruolo di un vero e proprio crogiolo di fusione delle razze ovine transumanti è stato il mantovano. Nelle praterie mantovane confluivano, oltre ai pastori bresciani, quelli trentino-tirolesi, veneti (veronesi, vicentini, bellunesi) e persino friulani." (PecoraBergamasca 2020)
Hinzuzufügen ist aus dem oberbayerischen Raum das Werdenfelser Bergschaf (Link).
2.2.2. Die alpin-padane Transhumanz über Bergamo hinaus
Zwar hat sich die Transhumanz in ihrer Bergamasker Ausprägungen als besonders erfolgreich und historisch dauerhaft erweisen, aber es handelt sich zweifellos um eine viel weiter verbreitete Nutzung der Flächen, die für weniger anspruchlose Tiere - wie für Kühe - oder gar für Ackerbau unbrauchbar sind. Die bereits zititierte Schweizer Quelle aus dem Jahr 1808 verweist auf das damals zu Tirol gehörige Fleimstal im Trentino:
"Auch im Tirol bestehen solche Pachtungen. Man rechnet, dass jährlich gegen 30,000 Schafe aus dem vormals Venetianischen auf die Alpen des tirolischen Thales Fleims in Sömmerung getrieben werden (Sammler für Gesch. und Statist. von Tirol Bd. III. S. 81). Umgekehrt hingegen schickte das tirolische Thal Tessino seine Schafe (deren es vor 40 oder 50 | Jahren noch 30,000 soll gegeben haben) vom November bis März auf die Weide ins Venetianische bis an die Meeresküste und hatte sehr alte Privilegien dafür vom Erzherzog Sigmund, von der Republik Venedig und von den Markgrafen und Herzogen von Mantua. Jetzt ist die Schafzucht daselbst aus verschiedenen Ursachen fast ganz verfallen (Ebendas. Bd. I, S. 46) - " (Anonymus (b) 1808, 46 f.)
Genauere Informationen gibt die Quelle, auf die sich das vorangehende Zitat beruft:
"Aus dem Ex=Venetianischen werden jährlich gegen 30/m [d.h. 30.000; Th.K.] Schafe (im Thale selbst mögen bey 9/m vorhanden seyn) die drey Sommermonate auf die Fleimser Alpen aufgetrieben; aber auch aus dem Etschlande weiden Pferde, Ochsen, Kühe und junges Rindvieh durch 3 1/2 Monate auf diesen Alpen, und man kann annehmen, daß drey Fünftheile des Etschländischen Viehstandes die Fleimser Alpen besuchen. Dagegen hat Fleims das Recht, auf die etschländischen Sümpfe (Möser) von Kaltern, Aur, Tramin, Kurtatsch, Neumarkt [unleserliches Zeichen; Th.K.] seine Schafe durch 32 Tage, vom 25. März bis 3. May aufzutreiben." (Senger 1808, 81)
2.2.3. Die bergamini - transhumante Rinderzüchter
Die alte Tradition der transhumanten Bergamasker Schäfer hat sich übrigens im oberitalienischen Kontext in kulturgeschichtlich bemerkenswerter und wenig bekannter Weise weiterentwickelt. Michele Corti (2020) stellt ausführlich dar, wie sich im Gefolge der stark zunehmenden Haltung von Rindvieh analog zu den Schäfern eine transhumante Rinderzucht entwickelte; auf den Namen der Stadt Bergamo geht daher der italienische Ausdruck bergamino zurück, der einen freiberuflichen, transhumanten Rinderzüchter ohne Grundbesitz bezeichnet (vgl. Treccani s.v.; Link). Diese bergamini stehen zwar historisch zunächst in der Tradition der Almwirtschaft; sie wanderten dann jedoch vor allem in Poebene:
"Dalle valli bergamasche i bergamini si dirigevano non solo nelle zone di pianura più vicine (la Gera d’Adda, l’alto Lodigiano, la pianura bresciana occidentale ma anche nel basso Lodigiano, nel Pavese, nel Milanese (Melegnanese, Martesana, Abbiatense), nel Cremonese, nel Novarese. I bergamini si dirigevano sino nel vercellese (nei primi secoli di transumanza anche nell’alessandrino e in Emilia) percorrendo a volte distanze di oltre duecento chilometri che collocano la transumanza dei bergamini tra le transumanze a pieno titolo “di lungo raggio”, accanto alle più famose transumanze ovine. Rimane in pagine di memorie e di letteratura e nella memoria di testimoni ancora viventi il vivo ricordo del passaggio delle carovane dei carri telonati dei bergamini, con il corteo delle vacche (aperto dalla batidüra, la vacca dominante, con la sua preziosa campana di fusione detta brunza de viacc’), le scrofe, uomini, donne, ragazzi, cani, qualche pecora. Uno spettacolo che dava l’impressione di un popolo nomade (quale in realtà in parte era quello dei bergamini), forte di una sua fiera diversità. Nelle diverse aree di svernamento i bergamini hanno “regalato” una tradizione di produzioni “tipiche” che sono instricabilmente e al tempo stesso patrimonio della pianura e della montagna, al tempo stesso milanesi, novaresi, cremasche e… bergamasche." (Corti 2020; Hervorhebung Th.K.)
Seit der Zwischenkriegszeit und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die bergamini dann in der Ebene nieder gelassen und dort auch Grund erworben. Alles in allem lässt sich ein kontinuierlicher Transfer ursprünglich alpiner, nämlich aus der Almwirtschaft stammender Techniken der Milchverarbeitung und Käseproduktion in die lombardische Ebene beobachten:
" Un patrimonio che è servito come piattaforma per la nascita e lo sviluppo dell’industria casearia lombarda. Per questo è lecito affermare che le tipologie dei formaggi d’alpeggio, trasferite con la transumanza in pianura, costituiscono la base delle tradizioni casearie lombarde. Anche del «Grana»." (Corti 2020)
Die abschließende Karte gibt einen Überblick über transhumante Traditionen im südalpin-padanen Raum; die bereits erwähnte Bedeutung der Gegend um Mantua als gemeinsames Winterquartier für Herden ganz unterschiedlicher Provenienz (3, 4, 5, 6, 7, 8) tritt klar hervor:
Alpin-padane Transhumanz im Überblick; 3 (= val Seriana), liegt in den Bergamasker Alpen (Quelle; vgl. zur Schweiz auch Wirth 1951)
Bibliographie
- AIS = Jaberg, Karl / Jud, Jakob (1928-1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, vol. 8, Zofingen (Link).
- Albertini von Tamins 1781 = Albertini von Tamins, H. von (1781): Die Wirthschaft der Bergamasker Schafhirten, in: Der Sammler. Eine gemeinnützige Wochenschrift für Bündten, vol. 3, 299-307 (Link).
- Anonymus (b) 1808 = Anonymus (b) (1808): Ueber die italiänischen Schafhirten, in: Der neue Sammler, ein gemeinnütziges Archiv für Bünden, Chur, Ökonomische Gesellschaft, 351 f. (Link).
- Anonymus 1808 = Anonymus (1808): Die Bergamasker Schafhirten in Bünden, in: Der neue Sammler, ein gemeinnütziges Archiv für Bünden, Chur, Ökonomische Gesellschaft, 204-236 (Link).
- Beuermann 1967 = Beuermann, Arnold (1967): Fernweidewirtschaft in Südosteuropa: ein Beitrag zur Kulturgeographie des östlichen Mittelmeergebietes, Braunschweig, Westermann.
- Corti 2020 = Corti, Michele (2020): La transumanza dei bergamì, una civiltà di allevatori-casari con lasciti profondi (Link).
- Decurtins o.J. = Decurtins, Alexi (o.J.): Niev Vocabulari sursilvan online (Link).
- DRG = Melcher, Florian / De Planta, Robert (Hrsgg.) (1939-): Dicziunari Rumantsch Grischun, Cuoira, Società Retorumantscha (Link).
- Kahl 2008 = Kahl, Thede (2008): Hirten in Kontakt: Sprach-und Kulturwandel ehemaliger Wanderhirten (Albanisch, Aromunisch, Griechisch), Münster, Lit.
- Krefeld/Lücke 2014- = Krefeld, Thomas / Lücke, Stephan (Hrsgg.) (2014-): VerbaAlpina. Der alpine Kulturraum im Spiegel seiner Mehrsprachigkeit, online [Ultimo accesso 20/01/2019 ore 16:02] (Link).
- PecoraBergamasca 2020 = PecoraBergamasca (2020): Pecora bergamasca e transumanza: note di storia (Link).
- Reitmaier 2017 = Reitmaier, Thomas (2017): Prähistorische Alpwirtschaft. Eine archäologische Spurensuche in der Silvretta (CH/A), 2007–2016, in: Jahrbuch Archäologie Schweiz, vol. 100, 7–53.
- Senger 1808 = Senger, Joseph von (1808): Eine Gebirgsreise in die Thäler Fleims und Fassa, in: Der Sammler für Geschichte und Statistik von Tirol, vol. 3, Innsbruck, 58-104.
- Stöllner/Oeggl 2015 = Stöllner, Thomas / Oeggl, Klaus (Hrsgg.) (2015): Bergauf Bergab. 10.000 Jahre Bergbau in den Ostalpen, in: Veröff. aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, vol. 207, Oberhausen, Leidorf.
- Wirth 1951 = Wirth, Paul (1951): Die Wanderschäferei in der Schweiz, in: Geographica Helvetica, vol. 6, 1, Copernicus GmbH, 233-237 (Link).