1. Kulturelle und sprachliche Resilienz
Die beiden skizzierten kulturellen Neuorientierungen Siziliens waren zweifellos tiefgreifend. So manifestiert sich die Arabisierung in einem weitgespannten Netz neuer Orts- und Flurnamen (s.u.). Aus dem Bruch der Namenkontinuität muss man jedoch nicht unbedingt auf einen parallelen Bruch der romanischen Sprachkontinuität schließen, wie Varvaro festhält:
"Il rinnovamento toponomastico è, almeno nelle campagne, molto forte e presuppone, per i suoi modi e la sua incidenza nel tempo lungo, un’arabizzazione tutt’altro che superficiale. Ma questo non significa per nulla una rottura generalizzata della continuità di insediamento nei centri abitati minori [...]" (Varvaro 1981, 94)
Diese Vermutung Varvaros lässt sich gelegentlich ethnographisch oder - wie im folgenden Beispiel - auch religionsgeschichtlich stützen; so zitiert er eine arabische Chronik des 9. Jahrhunderts von Ibrahim ibn Ahmad (Link), in der von der Kennzeichnung der nicht islamischen Bevölkerung die Rede ist:
"che portassero sulle spalle una toppa bianca, con la figura, i Giudei d’una scimmia e i Cristiani d’un maiale; e che gli stessi animali si dipingessero in tavole confitte su le porte di lor case." (Cronaca di Cambridge für die Jahre 845/6, zit. in Varvaro 1981, 111)
Es wäre daher falsch in den kulturellen Neuorientierungen radikale Pradigmenwechsel zu sehen; der ethnolinguistische Blick lässt durchaus gegenläufige Erscheinungen kultureller und sprachlicher Beständigkeit erkennen. Schon das Beispiel der sizilianischen FOCCACE (Link) hatte mit der außerordentlichen sprachlichen und sachlichen Vielfalt der dokumentierten Varianten sehr klar gezeigt, wie selbstverständlich der völlig ungefährdete Erhalt einer kulturellen Technik (BACKEN VON FOCCACE) mit ihrer kontinuierlichen und innovierenden Adaptation an veränderte kulturelle und soziale Rahmenbedingungen harmonieren kann. Die Dauerhaftigkeit (und Widerstandskraft) kultureller Techniken kann man als Resilienz (Link) bezeichnen. Dieser Ausdruck ist zwar in der Linguistik nicht sehr üblich; er bietet sich jedoch ganz selbstverständlich auch für die sprachlichen Bezeichnungen resilienter Techniken/ resilienter Konzepte an.
1.1. Kontinuität kultischer Attribute im Wechsel der Religionen
Sehr eindrucksvoll ist die Tatsache, dass sich sogar kultische, sakralisierte Attribute im mehrfachen Wechsel der dominanten Religionen erhalten können, So zitiert Varvaro den Bericht eines Historikers aus dem Jahre 1949 über eine Prozession in Enna zur festa dell’Assunta (Maria Himmelfahrt), gefeiert am 2 Juni:
«il simulacro è [...] adorno di manipoli di grano e lo portano i membri d’una confraternita di agricoltori, scalzi e vestiti di bianco, seguiti da fanciulle parimenti vestite di bianco. Si distribuiscono ai portatori rustici dolci di farina e miele, e le fanciulle appendono ad esso, a gara, mazzolini di fiori che al termine della pompa ritirano e custodiscono. Fra le statue che seguono il simulacro, quella di S. Pasquale reca formaggini in forma di cavalucci e daini. In passato due grandi fiaccole di stoppa e pece seguivano la processione.» (Pace 1949, zit. in Varvaro 1981, 111)
Bemerkenswert ist dieser Bericht, weil:
"le vesti bianchi, i piedi scalzi, le fiaccole, i dolci di miele, le offerte di fiori sono tutti elementi della festività estiva in onore di Demetra, la cui figlia Persefone era stata rapita da Plutone proprio vicino ad Enna. In questo caso sembra esserci una continuità di tradizione nella stessa area geografica, ed il fatto non pare casuale." (zit. in Varvaro 1981, 111)
Es wurde also in Sizilien, speziell in Enna, ein offenkundig vorchristlicher, griechischer Fruchtbarkeitskult zu Ehren der Demeter (ihr entspricht die römische Göttin Ceres; Link) durch das Christentum assimiliert und über die islamische Epoche hinaus beibehalten. Ähnlich ist im Übrigen der Brauch der so genannten Adonisgärten (an Johannis und an Ostern) einzuschätzen, der in Sizilien und Kalabrien (auch Sardinien) praktiziert wird. Adonis wurde in der griechischen Antike ebenfalls, wie Demeter, als Vegetationsgottheit verehrt (vgl. Frazer 1994, engl. Or. 1922, 500 ff., 524).
1.2. Onomastik
1.2.1. Toponymie
Wie immer ist die Toponomastik ein wichtiges Instrument zur Rekonstruktion regionaler Siedlungsgeschichte, denn Orts- und Flurnamen besitzen ein hohes Resilienzpotential (vgl. Krefeld 2020s; Link). Im Fall Siziliens springt sofort der Unterschied zwischen den überwiegend an der Küste liegenden städtischen Zentren und den ländlichen Gebieten ins Auge. Während wir im Fall der Zentren eine starke Namenkontinuität aus griechischer und allgemein vorarabischer Zeit haben (vgl. diese Karte), gilt das in ländlichen Gebieten gerade nicht, denn dort hat sich die Aufgabe der Latifundienwirtschaft offenkundig in zahlreichen Neubenennungen niedergeschlagen:
"Il frazionamento del latifondo [...] dà luogo a un gran numero di toponimi nuovi che arricchiscono il lessico toponomastico siciliano." (Trovato/Valenti 2013, 37)
Häufige Benennungstypen sind:
- cala/calt- < arab. cal’a ‘Burg, Festung’: Calatafimi, Calamònaci, Calatrasi, Calascibetta, Caltagirone, Caltabellotta, Caltavuturo;
- gibil < arab. ǧebel1 ‘Berg’
- racal- <arab. rahl ‘Weiler’: Racalmuto, Regalbuto;
- misi-/mezzo- < arab. manzil ‘Aufenthaltsort’: Misilmeri < manzil al-amir, Mezzoiuso < manzil yusuf ‘Ort von Jusuf’;
- favara < arab. fawwara ‘Quelle’: Favara bei Agrigento, favara auf Pantelleria;
- marsa < arab. marsa ‘Hafen’: Marsala < marsa Aly ‘Hafen von Ali’;
- arab. ’ayn ‘Quelle’;
- ráisi ‘Leiter einer Gruppe von Fischern; Kap, Vorgebirge’ < arab. rā’s ‘Kopf, Vorgebirge’ (vgl. VSES, 832).
Im Hinblick auf die sprachgeschichtlich wichtige Phase der romanisch-sizilianischen Zweisprachigkeit - und damit letztlich auch der Kontinuität des Romanischen - verdienen die Hybridnamen besondere Aufmerksamkeit, denn sie spiegeln unterschiedliche Phasen der Zweisprachigkeit wider, wie sich an den Formen mit der Basis gibil | gebel schön zeigen lässt.2 Unter anderen finden sich: Gibilmanna, Gibilrossa, Mongibello (der siz. Name des Ätna, it. Etna).
Zwei davon sind hybrid, wie die folgende Tabelle zeigt:
siz. Toponym |
roman. Synonym |
arab. Basis |
arab. Attribut |
roman. Attribut |
||
Gibilmanna | ǧebel | mannah | ‘Berg der Gnade’ | |||
Gibilrossa |
ǧebel | ru’ūs ↓ | ‘Berg + Spitzen’ | |||
ǧebel | → | rossa | ‘roter Berg’ | hybrid | ||
Mongibello | monte | ǧebel | ‘Bergrom.+Bergarab.’ |
Die Entstehung der einen hybriden Form, Gibilrossa, setzt voraus, dass die Bedeutung der arab. Basis (ǧebel) den Sprechern noch eher geläufig war, als die Bedeutung des (weniger frequenten?) Attributs ru’ūs, so dass es durch ein lautlich ähnliches, aber semantisch verschiedenes Wort in volksetymologischer Umdeutung ersetzt wurde. Im Fall von Mongibello könnte man eine bereits weiter fortgeschrittene Erosion der arabischen Sprachkenntnisse in der lokalen Bevölkerung vermuten, so dass auch die Basis gebel bereits eine Erklärung durch tautologische Übersetzung notwendig werden ließ.
Ähnlich hybride Toponyme ließen sich gewiss finden; der hybride Übersetzungstyp liegt z.B. vor in punta Raisi, der Bezeichnung eines Kaps westlich von Palermo:
siz. Toponym | romanisches Synonym | arabische Basis |
punta Raisi | punta ‘Spitze, Vorgebirge’ | arab. rā’s ‘Kopf, Vorgebirge’ |
Arab. ǧebel ■ und rā’s ▲ in der sizilianischen Toponymie
Schließlich gibt es auf den ersten Blick nur schlecht oder gar nicht erkennbare Namen, deren ursprünglich arabische Konstituenten vollständig durch semantisch vollkommen andere romanische Formen ersetzt wurden; mehrfach belegt ist die Substitution von arab. ’ayn ‘Quelle’ durch siz. donna ‘Dame’;3 der Grund für diese semantisch nicht motivierte Übertragung liegt in der Phonetik, nämlich in der Substitution des initialen arabischen Konsonanten, eines Kehlkopfverschlusslauts (eng. glottal stop; Link), der in lateinischer Transliteration hier durch das Zeichen ’ wiedergegeben wird (Link) durch /d/. So konnte arabisch ’ayn ’azīzah 'hervorragende Quelle’ als Donna Sisa ‘Frau Sisa (Kurzform für Susanna)’ aufgefasst werden (zwei mittelalterliche Beispiel aus Trapani und Palermo in Caracausi 1983, 114. Auch andere siz. Toponyme wie Donna Fugata, Donna Lucata sind analog auf arabische Quellnamen zurückzuführen. Es kann sogar noch eine zweite Substitution erfolgen, wenn siz. donna durch das (weitgehend) synonyme fímmina ‘femmina’ ersetzt wird; so führt eine Bezeichnung eines Gebirgspasses wie putteḍḍa fimmina motta (ita. portella femmina morta) womöglich auf die arabische Bezeichnung einer ‘toten’, d.h. versiegten Quelle zurück; die Lokalisierung geht aus der Karte hervor:
arab. ’ayn ‘Quelle’, → phonetisch adaptiert, semantisch remotiviert donna, → substituiert durch syn. fimmina
1.2.2. Anthroponymie
Arabismen haben sich jedoch nicht nur in Ortsnamen sondern auch in einigen spezifisch sizilianischen Familiennamen erhalten, wie z.B.:
- Macaluso (< arab. maḫluǧ ‘Freigelassener’; vgl. Trovato/Valenti 2013, 46 und zur Verbreitung diesen Link);
- Maimone (< arab. maimūn ‘glücklich’; vgl. Trovato/Valenti 2013, 46 und zur Verbreitung diesen Link);
- Taibbi (< arab. tayyib ‘gut, gesund’; vgl. Trovato/Valenti 2013, 46 und zur Verbreitung diesen Link).
1.3. Demographische Dynamik und die Entstehung von Sprachinseln4
Die normannischen Eroberungskriege (Link) führten zu einem tiefgreifenden demographischen Wandel Siziliens, denn im Gefolge ergab sich eine massive Einwanderung norditalienischer Siedler, deren Sprache meist als galloitalisch (galloitalico) bezeichnet und so in der italienischen Forschung vom ‘Galloromanischen’ aus dem Gebiet des heutigen Frankreich unterschieden wird:
"La guerra normanna di conquista della Sicilia, durata un trentennio (1061: presa di Messina, 1072: caduta di Palermo, 1091: caduta di Butera, Noto e Malta), aveva creato notevoli vuoti demografici. L'elemento arabo, però, restava numeroso, forte e sempre pronto a riprendere le armi. La politica matrimoniale degli Altavilla, imparentatisi più volte con gli Aleramici del Monferrato - Ruggero aveva sposato nel 1087 in terze nozze Adelasia del Monferrato e il fratello di lei, Enrico, aveva sposato Flandina, figlia di Ruggero -, e la necessità di poter contare su popolazioni fedeli nella lotta contro gli arabi, sono i presupposti per l’emigrazione di popolazioni italiane settentrionali verso la Sicilia. Ad Enrico viene concesso un feudo assai esteso e ricco che si estende da Paternò, nella Sicilia orientale, fino a Butera, e che include le terre di Piazza Armerina e di Mazzarino. La disponibilità di terre così vaste da ripopolare o da rimpinguare demograficamente e la necessità del controllo del territorio, creano un flusso migratorio potente dalla Liguria e dal Piemonte meridionale. Tale flusso, favorito da un diffuso disagio sociale nell’entroterra ligure e nella Cispadana (Petracco Sicardi 1965: 129-130), viene incoraggiato dagli Aleramici (Pfister 1988: 34-37 e 1994: 27-29) e da religiosi dell’isola (Peri 1959: 274), pronti a concedere agli immigrati importanti franchige e privilegi (Peri 1978: 97, Pfister 1988: 34-37)." (Trovato 2013, 280)
Um die historische Sprachsituation richtig zu verstehen, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die galloitalischen Varietäten niemals isoliert waren, sondern stets im Kontakt mit genuin sizilianischen Varietäten standen:
"Le popolazioni italiane settentrionali immigrate [...] si sono sempre insediate in località abitate da siciliani e non hanno mai fondato (o rifondato) città nuove o comunque disabitate. Fin dall’inizio, perciò, lo scontro tra due realtà linguistiche diverse, il siciliano e il galloitalico, fu inevitabile." (Trovato 2013, 285)
Die Orte mit norditalienischen Einwanderern werden mit einem etwas irreführenden Ausdruck auch als ‘Lombardia siciliana’ bezeichnet. Genauer gesagt lassen sich zwei Gruppen unterscheiden, je nachdem, ob sich die jeweiligen Dialekte im Ganzen als galloitalisch charakterisieren lassen oder sich nur mehr oder viele galloitalische Varianten finden (vgl. Trovato 2013, 277 und Foti 2015, I, Anm. 1). Im ersten Fall sind also kleine Sprachinseln in Sizilien entstanden, deren Varietäten sich durch eine ausgeprägte Resilienz auszeichnen.
14 Zentren mit galloitalischen Varietäten (resiliente Immigrationsvarietäten, oder: ‘Sprachinseln’) | |||
Provinz | Gemeinde | Provinz | Gemeinde |
Messina | San Fratello | Catania | Randazzo |
Acquedolci | Enna | Nicosia | |
San Piero Patti | Sperlinga | ||
Montalbano Elicona | Piazza Armerina | ||
Novara di Sicilia | Aidone | ||
Fondachelli-Fantina | |||
Siracusa | Ferla | ||
Buccheri | |||
Càssaro |
10 Orte mit mehr oder weniger zahlreichen galloitalischen Varianten im lokalen Sizilianischen | |||
Provinz | Gemeinde | Provinz | Gemeinde |
Messina | Roccella Valdemone | Catania | Bronte |
Santa Domenica Vittoria | Maletto | ||
Francavilla | Caltagirone | ||
Enna | Valguarnera Caropepe | Mirabella Imbaccari | |
Palermo | Corleone | San Michele di Ganzaria | |
Piedimonte Etneo | |||
Linguaglossa |
In anderen Orten scheint ehemals eine galloitalitalische Komponente vorhanden gewesen zu sein. Die folgende Karte gibt einen Überblick:
Karte 1 - Lombardia siciliana
∎ galloitalische Varietät (● AIS-Ort)
∎ sizilianische Varietät mit galloitalischen/norditalienischen Varianten (● AIS-Ort)
∎ untergegangene galloitalische Varietät oder verschwundene norditalienische Varianten5
∎ Zentrum der Grafschaft Monferrato
Es liegt nahe hinter der Topographie der Ansiedlung einen strategischen Plan zu vermuten, einerseits "lo scopo di tagliare in due le comunità arabe della Sicilia sudorientale da quelle della Sicilia occidentale e impedir loro di congiungere le forze (Varvaro 1981, 186)" (Trovato 2013, 276), andererseits liegen die Orte wie ein Ring um Catania6.
1.4. Komplementarität
Aus ethnolinguistischer Sicht lässt abschließend feststellen, dass auch innerhalb eng begrenzter onomasiologischer Felder resiliente Formen ganz unterschiedlicher kultureller Traditionen komplementäre Verbindungen eingehen. Dazu ein Beispiel aus der Milchverarbeitung. In einschlägigen Terminologie der Madonie, eines Gebirges östlich von Palermo, in dem sich keine galloitalischen Orte finden, stehen nebeneinander der Arabismus źźammataru ‘Senn’ und der galloitalische Typ tuma ‘Frischkäse’ (vgl. fra. tomme, Karte):
Entsprechende Beispiele ließen sich schnell vermehren, selbst in den Bereichen, die durch die historisch jeweils dominante Kultur ritualisiert und womöglich sanktioniert waren. Oben ist auf die Entlehnung frisinga < altfra. frecenge 'Ferkel' (vgl. FEW 15, 180 ff. und AIS 1090 Legende) hingewiesen worden, die sich mit der starken Zunahme der Schweinezucht in nachislamischer, normannischer Zeit gut erklären lässt. Daneben scheinen siz. porcu (< lat. porcus; AIS Karte 1088) und sic. scrofa (< lat. scrofa) jedoch nicht verschwunden zu; sie haben sich, mit anderen Worten, auch unter der islamischen Herrschaft als resistent erwiesen. Hinzu kommt, dass ´selbst die arab. Bezeichnung des Tieres ḫinzīr (oder *ḫanzīr) in siz. canzirru/ganzirru ‘Ferkel’ erhalten hat (vgl. Valenti 2011, 32 f.).
Gelegentlich sind dergleichen resiliente Formen alles andere als selbstverständlich; ein einschlägiges Beispiel, das auch der AIS belegt, ist sizilianisch tabutu ‘Sarg’ (vgl. AIS 792 CASSA DA MORTO; Link). Während die Etymologie (vgl. Caracausi 1983, 358 f.) "arab. tābūt ‘cassa di legno’, ‘arca funeraria’, ‘bara’ (Pell[egrini] I 169)" vollkommen unproblematisch ist, erscheint der kulturelle Kontext der Entlehnung merkwürdig, denn die muslimischen Rituale der Grablegung unterscheiden sich markant von den katholischen:
- Die traditionelle muslimische Grablegung erfolgt in einem Leichentuch oder Gewand, aber ohne Sarg und die Leiche auf ihre rechte Seite mit dem Blick nach Mekka gelegt (Link).
- Die traditionelle christliche Grablegung erfolgt dagegen bei Erdbestattung in einem Sarg, mit den Füßen nach Osten und dem Kopf nach Westen.
2. Akkulturation und Stratigraphie
Es ist nun klar geworden, dass in Entlehnungsprozessen als Resultat von Sprachkontakt ein Indiz für Akkulturation gesehen werden muss. In der historischen Linguistik (oder: Sprachgeschichtsschreibung) wird Sprachkontakt jedoch in der Regel stratigraphisch modelliert: Kontaktsprachen werden in ihrem historischen Verhältnis zu einer Sprache gesehen, die im Mittelpunkt der Untersuchung steht: Der Kontakt ergibt sich
- einerseits mit einer Sprache, die in einer bestimmten Region schon vor der Etablierung der untersuchten Sprache gesprochen wurden,
- andererseits mit einer Sprache, die nach der Etablierung der untersuchten Sprache, in einer bestimmten Phase der Geschichte in deren Raum gekommen ist.
Diese beiden zeitlichen Relationen werden metaphorisch als ‘Überschichtung’ modelliert, so dass eine früher vorhandene Sprache als darunterliegende Schicht - als Substrat - und die später zeitweise hinzukommende überdeckende Schicht - als Superstrat - bezeichnet werden konnten; für die eigentlich untersuchte Sprache, in der sich der Kontakt niederschlägt, wurde dagegen der Terminus Strat geprägt (vgl. ausführlicher, auch zur Wissenschaftsgeschichte Krefeld 2003b).
Superstrat | → † | ||||
Strat | → | ||||
Substrat | → † | ||||
Zeitpunkt A | Zeitpunkt B | Zeitpunkt C | |||
Basale stratigraphische Modellierung in der Sprachgeschichtsschreibung |
Wenn in der Sprachgeschichtsschreibung die Stratigraphie thematisiert wird, stehen zwei Aspekte im Vordergrund:
- die in der historischen Rückschau zweifellos wichtige Tatsache, dass Sub- und Superstrate aufgegeben wurden und ihre Überlieferungskontinuität abbricht (Symbol: †);
- die Assoziation von Substrat mit militärischer Niederlage und politischer Unterwerfung der Sprechergemeinschaft bzw. von Superstrat mit militärischem Sieg und politischer Herrschaft.
Grundlegend für das Verständnis des kontaktbedingten Sprachwandels ist jedoch gerade nicht das Verschwinden der Kontaktsprachen, seien es nun Sub- oder Superstratsprachen, sondern die Phase der Koexistenz der in Kontakt stehenden Sprachen, genauer gesagt die daraus entstehende Mehrsprachigkeit: Entlehnungen setzen nicht die Kopräsenz von monolingualen Sprechern unterschiedlicher L1 am selben Ort voraus, sondern eine mehr oder weniger kleine / große Population von bilingualen Sprechern am selben Ort. Für die Verbreitung einer Entlehnung (mitsamt des bezeichneten Konzepts / der bezeichneten Sache) gilt das allerdings nicht; Entlehnungen können - mit anderen Worten - unabhängig voneinander an unterschiedlichen Orten eines (ehemals) zweisprachigen Gebiets erfolgt sein, oder aber sich von einem Entlehnungspunkt aus verbreitet haben. Das wird sich im Einzelfall oft nicht genau klären lassen, aber bei markanten Unterschieden liegt es nahe, Mehrfachentlehnung anzunehmen (vgl. z.B. niederdeutsch/niederländisch poort < lat. porta ‘Tür’ ohne Verschiebung von /p/ > /pf/ vs. süddeutsch Pforte < lat. porta mit Verschiebung); Sprachen die nicht nur am selben Ort, sondern auch im Sprachwissen bilingualer Sprecher koexistieren, werden als Adstrate bezeichnet.
Um die historische Motivation der Entlehnungen zu verstehen ist es weiterhin notwendig, die Sprache nicht - unreflektiert oder womöglich ganz bewusst - zu isolieren, sondern sie grundsätzlich als eine kulturelle Technik im Verbund mit zahlreichen anderen Kulturtechniken zu sehen. Sub- und Superstrate sind immer gesamtkulturell zu verstehen: Sie sind nicht exklusiv sprachlich, sondern implizieren in ihrer Komplexität unter anderem auch Sprachen. Wer Entlehnungen als Ausdruck von Akkulturation auffasst, muss soweit als möglich die Dauer der Zweisprachigkeit, ihre Verbreitung sowie die Verschränkung der Kontaktkulturen und die Entstehung hybrider kultureller Techniken berücksichtigen. Die Sub- bzw. Superstrate müssen gewissermaßen in ihren adstratalen Phasen erforscht werden:
Superstrat | → † | ||||
Adstrate im Kulturkontakt |
|||||
Strat | → | ||||
Adstrate im Kulturkontakt | |||||
Substrat | → † | ||||
Adstratale Phasen in der Stratigraphie |
Im Hinblick auf den Sprach- und Kulturkontakt ist nun sehr wichtig, dass die politische Hierarchie und die gesellschaftliche Über- bzw. Unterordnung keineswegs die Richtung der Akkulturation vorgeben; es könnte der Eindruck entstehen, dass die unterworfenen Sprach- und Kulturgemeinschaften sich grundsätzlich (‘von unten nach oben’) an die Herrschenden akkulturierten (Symbol: ↑). Das ist keineswegs selbstverständlich, denn auch die Akkulturation der Herrschenden an die Unterworfenen (‘von oben nach unten’) ist keineswegs selten (Symbol: ↓).
2.1. Entlehnung/Akkulturation ‘von unten nach oben’ (↑)
Dieser Fall wurde bereits vorgestellt (Link), denn er entspricht genau der Beziehung zwischen den romanischsprachigen Sizilianern und den arabischen bzw. später den normannischen Eroberern; die Akkulturation an die damit importierten neuen kulturellen Welten (↑) manifestiert sich in zahlreichen Entlehnungen aus dem Arabischen bzw. dem normannischen Französischen ins Sizilianische (↓):
Superstrat (1): Arabisch → † |
Superstrat (2): Norm. Fra. → † |
||
Akkulturation ↑ - Adstratentlehnungen ↓ | |||
Strat: romanischsprachiges Sizilianisch → | |||
Akkulturation in der sizilianischen Sprachgeschichte |
2.2. Entlehnung / Akkulturation ‘von oben nach unten’ (↓)
Ethnolinguistisch lehrreich sind die a priori nicht unbedingt erwartbaren Konstellationen, in denen sich militärisch und / oder politisch herrschende Gemeinschaften an die unterworfenen und beherrschten Gemeinschaften akkulturieren. Eindeutige und bekannte Beispiele liefert die so genannte Romania Submersa, d.h. die Gebiete des ehemals römischen Reichs, in denen sich das Lateinisch-Romanische nicht als resilient erwies und durch germanische oder slawische Sprachen verdrängt wurde (vgl. Krefeld 2020c). Aus den Entlehnungen ganzer Sachgebiete lässt sich hier eine tiefgreifende Akkulturation der Germanen an die römische Welt erschließen; ganz eindeutige Bereiche sind der Gartenbau vgl. Krefeld 2020s, Link) und auch der Steinbau (vgl. Krefeld 2020p, Link).
Es sei nur am Rande darauf hingewiesen (vgl. Krefeld 2021c), dass die Akkulturationsrichtung ‘von oben nach unten’ (↓) allem Anschein nach bei der Entstehung der rumänischen Sprache eine ganz besondere Rolle gespielt hat: Im heutigen Rumänien hat sich kein einziger römischer Orts- oder Flurname erhalten. Daraus kann man nur den Schluss ziehen, dass die römische Infrastruktur nördlich der Donau nach Aufgabe der Provinz Dakien (271 n.Chr.) nicht mehr genutzt wurde; dazu passt die Tatsache, dass sich zahlreiche lateinische Ausdrücke aus dem Bereich des Steinbaus, die in allen romanischen Sprachen und in der germanisierten Romania Submersa fortgeführt wurden, im Rumänischen nicht erhalten haben. Darin mag man den Ausdruck einer Dekulturation sehen. Gleichzeitig gibt es im Rumänischen etliche Bezeichnungen aus der Pastoralkultur, die aus einer vorrömischen Substratsprache stammen; die Romanen müssen sich daher wohl an die mobile Kultur der vorrömischen Bevölkerung (Daker) akkulturiert haben. Dazu passt die auffällige Tatsache, dass sich die vorrömischen, aber in lateinischer Form überlieferten Flussnamen - in vollkommenem Gegensatz zu den Siedlungsnamen - bis ins aktuelle Rumänische bewahrt wurden. Die durchgängige Resilienz der Hydronyyme spricht im Verbund mit der Aufgabe der Toponamye ebenfalls für mobile, nomadisierende oder transhumante Nutzung der des ehemals dakischen Raums.
2.3. Gegenläufige Akkulturationsprozesse
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Überlieferungskontinuität der Sub- und Superstratsprachen abbricht (Symbol: †). Abgesehen vom schrecklichen Szenario des Genozids7 können dafür im Wesentlichen zwei Gründe verantwortlich sein:
- freiwilige oder aufgezwungene Migration der Sprecher;
- Sprachwechsel, d.h. der Verzicht einer Sprechergemeinschaft eine Sprache an die nachfolgende Generation weiterzugeben.
Der erste Fall trifft für die arabischsprechende Bevölkerung Siziliens zu: der islamische Teil wurde von Friedrich II, im Jahre 1246 nach Lucera in Apulien umgesiedelt und der jüdische Teil wurde 1492 durch die Spanier ausgewiesen (vgl. Trovato/Valenti 2013, 37). Der zweite Fall gilt dagegen für das normannische Französisch, dass von den Sprechern nicht weitergeführt wurde; diese Sprache hat sich in Sizilien - mit anderen Worten als nicht resilient erwiesen.
Superstrat (1) in Sizilien Arabisch, † durch Umsiedlung |
Superstrat (2) in Sizilien Norm. Fra., † durch Sprachwechsel |
In ethnolinguistischer Perspektive ist der Sprachwechsel nichts anderes als eine bestimmte Form von Akkulturation, denn die Sprache ist eine kulturelle Technik und der Übergang einer Sprechergemeinschaft zu einer regionalen / lokalen Adstratsprache besteht in der Übernahme dieser Kulturtechnik von der koexistierenden Sprechergemeinschaft. Der Fall ist vor allem dann bemerkenswert, wenn diese Form der totalen Akkulturation der partiellen Akkulturation der koexistierenen Sprechergemeinschaft entgegen läuft: Die romanischsprachigen Sizilianer entlehnen mehrere kulturelle Techniken mitsamt deren französischen Bezeichnungen von den Normannen, während die Normannen zur Sprache der indigenen sizilianischen Bevölkerung übergeht. Dieser für die Adstratphase der normannisch-sizilianischen Zweisprachigkeit charakteristischen kulturellen Spannung kann die Sprachgeschichtsschreibung nur dann gerecht werden, wenn sie die Beschränkung auf die Geschichte einer Sprache zu Gunsten einer kommunikationsräumlichen Modellierung aufgibt.
Normannen ↓ - völlige sprachliche Akkulturation ‘nach unten’ (†) |
indigene Sizilianer ↑ - partielle kult./sprachl. Akkulturation ‘nach oben’ (Entlehnungen) |
Bibliographie
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- VSES = Varvaro, Alberto (2014): Vocabolario storico-etimologico del Siciliano, vol. 2, Palermo/Strasbourg, Centro di Studi Filologici e Linguistici Siciliani, Ed. de Linguistique et de Philologie.