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Ethnolinguistik?

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Zitation: Thomas Krefeld (2023): Ethnolinguistik?. Version 3 (03.07.2023, 08:58). Lehre in den Digital Humanities. , url: https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=202674&v=3



1. Über eine etwas undisziplinierte Disziplin

Neben dem einfachen Ausdruck Linguistik fehlt es nicht an sogenannten ‘Bindestrich-Linguistiken’1. Im deutschsprachigen Raum sind mindestens Systemlinguistik, Computerlinguistik, Soziolinguistik, Kontaktlinguistik, Psycholinguistik, Neurolinguistik, Varietätenlinguistik, Variationslinguistik, Pragmalinguistik, Textlinguistik, Geolinguistik, Medienlinguistik, Migrationslinguistik geläufig; andere Fügungen wie perzeptive Linguistik, klinische Linguistik und forensische Linguistik sind fest etabliert. Aber der selten gebrauchte  Ausdruck Ethnolinguistik, der dieser Vorlesung den Titel gegeben hat, gehört nicht dazu. Im Verständnis des Verfassers handelt es sich dabei um eine bewusste Adaptation des italienischen Terminus etnolinguistica. Warum sie als sinnvoll angesehen werden kann, muss nun in einem ersten Schritt ausgeführt werden.

2. ‘...linguistik’ ?

Alle genannten (Sub-)Diziplinen befassen sich in unterschiedlichen Perspektivierungen mit dem Gegenstand SPRACHE2. Im Nebeneinander des einfachen Ausdrucks und der Zusammensetzungen spiegeln sich zwei alternative Grundauffassungen, die sich seit Entstehung der modernen Sprachwissenschaft  gegenüberstehen. Bemerkenswerterweise werden beide schon im Cours de linguistique générale, den viele als den grundlegenden Text schlechthin ansehen, von Ferdinand de Saussure formuliert.

2.1. Theorie und Beschreibung des sprachlichen Systems

Die eine Auffassung will den Gegenstand SPRACHE vollkommen isolieren, in der Hoffnung ihn ‘als solchen’ adäquat  zu erfassen:

« la linguistique a pour unique et véritable objet la langue envisagée en elle-même et pour elle-même ». (Saussure 1972, 317)

‘die Linguistik hat als einzigen und echten Gegenstand die Sprache an und für sich selbst betrachtet.’ (Übers. Th.K.) 

In breiten Mainstream der Rezeption wird Saussure in der Regel auf diese Auffassung reduziert; sie gilt geradezu als Bekenntnis zur modernen Sprachwissenschaft in ihrer ‘klassischen’, meistens als strukturalistisch charakterisierten Ausprägung. 

2.2. Teilbereich der Semiotik

Allerdings übersieht diese reduktionistische Auslegung, dass Saussure die Linguistik keineswegs isolieren, sondern als eine Komponente einer viel weiter konzipierten Zeichenwissenschaft etablieren wollte:  

„On peut donc concevoir une science qui étudie la vie des signes  au sein de la vie sociale ; elle formerait une partie de psychologie sociale, et par conséquent de la psychologie générale : nous la nommerons  sémiologie (du grec sēmeîon, «signe»). […] La linguistique n’est qu’une partie de cette science générale,“ (Saussure 1972, 33)

‘Man kann also eine Wissenschaft konzipieren, die das Leben der Zeichen inmitten des sozialen Lebens studiert; sie würde einen Teil der Sozialpsychologie und folglich der allgemeinen Psychologie darstellen: wir werden sie Semiologie nennen (nach dem griechischen sēmeîon, «Zeichen»). […] Die Linguistik ist nur ein Teil dieser allgemeinen Wissenschaft,’ (Übers. Th.K.). 

Diese Konzeption beruht auf der seinerzeit unerhörten Idee, alle kulturellen Techniken, Riten, Brauchtum usw. unabhängig von ihrer eventuellen sprachlichen Kategorisierung als Zeichen aufzufassen (vgl. Krefeld 2020f), und so der Sprache überhaupt erst vergleichbar zu machen.

„Par là, non seulement on éclairera le problème linguistique, mais nous pensons qu’en considérant les rites, les coutumes, etc… comme des signes, ces faits apparaîtront sous un autre jour, et on sentira le besoin de les grouper dans la sémiologie et de les expliquer par les lois de cette science.“ (Saussure 1972, 35)

‘Dadurch wird man nicht nur das Problem der Sprache klären, sondern wenn man die Riten, Gewohnheiten , usw... als Zeichen betrachtet, erscheinen uns diese Tatsachen in einem anderen Licht, und wir werden das Bedürfnis empfinden sie der Semiologie zuzuweisen und sie durch die Gesetze dieser Wissenschaft zu erklären.’ (Übers. Th.K.)

Saussure selbst hat nicht (mehr) ausgeführt, wie er sich diese semiotische Modellierung nichtsprachlicher Handlungs- und Verhaltensmuster vorstellte. Das enorme Potential dieser Konzeption, die später - aber ganz unabhängig von der Semiotik des Amerikaners Charles Sanders Peirce (Link) - entstanden ist, entfaltete sich eines halbes Jahrhunderts später, als die Semiotik zunächst in Frankreich (vor allem durch Roland Barthes, Link), dann in Italien (vgl. Eco 1973, Eco 1975), in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern zu einer unwiderstehlichen Leitdisziplin zahlreicher Wissenschaften avancierte; bahnbrechend für den Siegeszug der Semiotik wirkte Barthes 1957. Wie die Zoosemiotik (Link) zeigt, wirkte dieses Paradigma auch über die Geisteswissenschaften hinaus. Ein Blick auf die aktuell aktiven Sektionen innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (Link) zeigt, welche kulturellen Techniken semiotisch untersucht werden; die Liste ist wohl auch ein wenig den (zufälligen) Interessen der beteiligten Forscher geschuldet, denn manche semiotisch hochinteressante Bereiche fehlen hier (z.B. ERNÄHRUNG, FILM, GENDER, LANDSCAPING u.a.) fehlen hier. Entscheidend für alle semiotischen Modellierungen der Wirklichkeit ist die hohe Variabilität der beobachtbaren semiotischen Ordnungen in ihrer jeweiligen "vie sociale":

"Denn was zum Zeichen gemacht wird oder nicht, entscheiden kulturelle Konventionen oder Gebrauchsweisen. Das heißt, Zeichen sind kulturrelativ: Verschiedene Kulturen verfügen über differente Codes, wie ebenso weit voneinander entfernte Epochen ihre Fremdheit oder Unverständlichkeit darin bewahren, dass sie unterschiedliche Ordnungen und Kontexte der Zeichendeutung und Zeichenerzeugung bereitstellen."  (Mersch 2001, Kap. 1.3)

Die Semiotik entpuppt sich in dem von Saussure visionär abgesteckten Horizont als Schlüsseldisziplin, um die Verflechtung  der unterschiedlichen kulturellen Techniken - und damit eben ‘die’ jeweilige Kultur als Komplex solcher Techniken - zu modellieren3 und in historischer Perspektive womöglich zu rekonstruieren.

3. ‘Ethno...’?

Ganz unabhängig davon, ob man KULTUR semiotisch versteht oder nicht, erhebt sich nun die Frage, wie eine solche Linguistik, die Sprache in ihrer vielfältigen, semiotisch ergiebigen Vernetzung mit anderen kulturellen Techniken ("au sein de la vie sociale") beschreibt und analysiert, bezeichnet werden sollte. Die eingangs aufgezählten, etablierten Bindestrich-Linguistiken (vgl. DEFAULT) liefern keinen geeigneten Kandidaten, da sie semantisch zu speziell und/oder methodologisch zu stark eingeschränkt sind. Insbesondere die Soziolinguistik taugt nicht für die Erfassung der vie sociale im Sinne Saussures, denn der Ausdruck ist diffus. Ein großer Teil der Forschung versteht darunter, in der Nachfolge der amerikanischen Soziolinguistik, die Bemühung sprachliche Variation auf gesellschaftliche Stratifikation, d.h. auf die Hierarchie der Gesellschaft gemäß ‘höher’ und ‘niedriger’ liegender Schichten (‘diastratisch’) abzubilden; ein anderer Teil, fasst darunter alle linguistischen Forschungsinteressen, die nicht mit rein formalen oder - noch enger - mit universalistisch generativen Modellierungen arbeiten.

In Frage kommt dagegen der Ausdruck Ethnolinguistik (vgl. Krefeld 2018aj), da der Spezifikator ethno- im Konzept KULTUR verankert ist. Er geht etymologisch auf altgriechisch ἔθνος (ethnos) zurück (vgl. LSJ, Link), womit im Unterschied zu δῆμος (demos) (vgl. LSJ, Link) tendentiell eher nicht staatlich verfasste und fremde Gruppen bezeichnet wurden. Wichtiger als diese Etymologie ist natürlich die Verankerung der sprachlichen Wurzel im Namen der Disziplin Ethnologie, die sich keineswegs nur mit fremden, sondern in Gestalt der Europäischen Ethnologie auch mit unserer eigenen Alltagswelt befasst. In diesem Sinne heißt es auf der Homepage dieses Fachs an der LMU: 

"Europäische Ethnologie ist eine empirische Kulturwissenschaft, die kulturelle Phänomene der europäischen Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart untersucht und analysiert. Der Schlüsselbegriff Kultur stellt dabei ein soziales Handlungs- und Ordnungssystem dar, das allerdings nicht starr fixiert ist, sondern als eine Form gesellschaftlicher Praxis verstanden werden muss, in deren Rahmen die Menschen in einem fortwährenden Prozess jene Regeln aushandeln, die sie für die Organisation ihres Alltags und ihres Zusammenlebens benötigen." (Quelle)

Es gäbe durchaus konkurrierende Bezeichnungen, die jedoch deutlich schlechter geeignet sind. Zu nennen sind anthropologische Linguistik bzw. linguistische Anthropologie, nach dem amerikanischen Vorbild anthropological linguistics bzw. linguistic anthropology (vgl. zu diesen Bezeichnungspaar (vgl. Foley 2012)); beide sind nur vor dem Hintergrund der us-amerikanischen Forschungstradition sinnvoll, in der die Disziplin der Ethnologie häufig als cultural anthropology (auch deu. Kulturanthropologie) bezeichnet wird. 

Im deutschsprachigen Raum wurde Volkslinguistik von H.E. Brekle (1985, 33-43) vorgeschlagen. Damit ist jedoch nur ein Teilbereich gemeint, der heute meistens mit. deu.  Laienlinguistik, fra. épilinguistique (vgl. Culioli 1968) identifiziert wird, nämlich das vorwissenschaftliche sprachbezogene Wissen des Sprechers:

"Wir versuchen hier 'Volkslinguistik' als terminus technicus einzuführen, zum einen gestützt auf die Analogie zu den schon vorhandenen Termini der Reihe Volkssprache, -dichtung, -märchen, -kunst, -medizin, -psychologie (cf. Kleinpaul 1914) und -etymologie, zum anderen als Lehnübersetzung des etablierten englischen Terminus folk-linguistics." (Brekle 1985, 34, Anm. 33)

Ganz davon abgesehen, dass sich engl. folk und deu. Volk semantisch keineswegs entsprechen, sollte man die Neuprägung wissenschaftlicher Termini mit Volk auch wegen der mit dem Wort verknüpften irreführenden Konnotationen besser vermeiden. Es muss aber festgehalten werden, dass sich die Forschungsarbeit der Ethno-Disziplinen in einem zweidimensionalen  Modell kulturellen Wissens bewegt, denn sie operiert vor zwei epistemologischen Horizonten,

  • vor dem vorwissenschaftlichen Horizont der Laien, d.h. der Nutzer und Anwender der untersuchten kulturellen Techniken einerseits,
  • vor dem wissenschaftlichen Horizont des Experten andererseits,

und erfasst weiterhin zwei kognitiv komplementäre Repräsentationsweisen,

  • das prozedurale Ausführenkönnen kultureller Techniken,
  • das deklarative Wissen über die ausgeführten Techniken.
    kognitive Repräsentation
    prozedural deklarativ
Horizonte Laien AUSÜBUNG KOMMENTAR
Experten BESCHREIBUNG MODELLIERUNG
Mapping von Wissen in Ethno-Disziplinen

Ethnolinguistische Ansätze schließen also kognitive Fragestellungen ein; das Umgekehrte gilt dagegen nicht, denn kognitive Fragestellungen müssen nicht unbedingt kulturelle Prägungen implizieren.

3.1. Ethnolinguistik - jenseits von NATIONEN und ETHNIEN

Der Ausdruck erlaubt weiterhin den Verzicht auf einen konsequent nationalen Untersuchungsrahmen; der Begriff NATION wird hier rein formal im Sinne von NATIONALITÄT, d.h. STAATSANGEHÖRIKEIT, verstanden. IALIENER oder DEUTSCHE sind in diesem Sinn STAATSBÜRGER der REPUBBLICA ITALIANA und/oder der BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND und ihre minderjährigen Kinder, vollkommen unabhängig von ihrer genealogischen Abstammung.  Das hindert Gruppen mit spezifischen genealogischen Hintergründen selbstverständlich nicht daran charakteristische kulturelle Techniken wie z.B. eigene Sprachen/Varietäten beizubehalten oder neu auszubilden; die lassen sich aber gerade nicht ‘national’ fassen.

Damit werden die Existenz spezifisch nationaler kultureller Muster und ihre Erforschung freilich keineswegs in Abrede gestellt; man denke nur an die privaten und öffentlichen Aktivitäten, die in Italien - und nur dort - mit Ferragosto (Link) verbunden sind oder auch die cultura di massa im Umfeld des staatlichen Fernsehens bis zur Einführung der Privatsender (es wurde von Umberto Eco als paleotelevisione bezeichnet; LINK), mit Ereignissen wie den Wahlen der Miss Italia (Link) oder dem Festival di Sanremo (Link).

Aus der grundsätzlichen Relativierung der Nation als Deutungs- und Entstehungshintergrund kultureller Phänomene folgt jedoch nicht die Notwendigkeit ein ethnolinguistisch relevantes Phänomen, wie zum Beispiel eine bestimmte Grußfloskel, in einer spezifischen ETHNIE oder ETHNISCHEN GRUPPE zu verankern. Wie es in der folgenden Definition explizit festgestellt wird, sind Ethnien in der Selbstwahrnehmung (oder: Autoperzeption) der zugehörigen Personen fundiert; ihre Identifikation auf alleiniger Basis von Fremdzuschreibung (oder: Heteroperzeption) ist wissenschaftlich unzureichend und politisch unzulässig:

"In essence, an ethnic group is a named social category of people based on perceptions of shared social experience or one’s ancestors’ experiences. Members of the ethnic group see themselves as sharing cultural traditions and history that distinguish them from other groups. Ethnic group identity has a strong psychological or emotional component that divides the people of the world into opposing categories of «us» and «them». In contrast to social stratification, which divides and unifies people along a series of horizontal axes based on socioeconomic factors, ethnic identities divide and unify people along a series of vertical axes. Thus, ethnic groups, at least theoretically, cut across socioeconomic class differences, drawing members from all strata of the population." (People/Bailey 2010, 389)

Der Klarheit willen muss dem Zitat allerdings hinzugefügt werden, dass die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe nicht den einzigen Wir-Horizont der jeweiligen Person bilden muss; vielmehr kann jemand, der sich in bestimmten Situation mit friaul. mandi! (und nicht mit ciao!, arrividerci! usw.) verabschiedet und der auch sonst friaulisch spricht, in anderen Situation alle Italiener oder in althabsburgischer Tradition alle Mitteleuropäer in sein WIR einbeziehen - ohne das der eine oder andere WIR-Horizont dadurch ‘falsch’ würde; auch deshalb lässt sich noi friulani ja auch auf italienisch sagen. Äußerst problematisch ist es diesem Zusammenhang ‘Ethnizitäts’-Bekundungen mit dem kulturell letztlich wohl sinnlosen Prädikat vermeintlicher Authentizität zu versehen.

4. Italienische und italianistische Forschungstraditionen

In Italien und in der italienbezogenen Forschung hat die Engführung von Linguistik und Ethnologie eine lange und bemerkenswerte Tradition. Es ist jedoch sinnvoll zwischen Arbeiten zu unterscheiden, die de facto in diesem Sinn angelegt und durchgeführt wurden und solchen, die sich ganz explizit als etnolinguistico ausweisen. 

4.1. Etnolinguistica

Nachdrücklich in der sprachwissenschaftlichen Forschung etabliert wurde die Ethnolinguistik  und der entsprechende Terminus etnolinguistica durch Giorgio Raimondo Cardona (Link), der leider viel zu früh verstorben ist (vgl. 1976, , 1995 [1985]). Cardona war allgemeiner Sprachwissenschaftler; in seinen Arbeiten werden zwar einige italienische und romanische Beispiele analysiert; aber sie sind aus der Sicht dieser Disziplinen vor allem von theoretischem Interesse, da sie die kulturelle Konditionierung zahlreicher sprachlicher Phänomene aufdeckt. Im Zentrum steht das Problem der Kategorisierung der vielfältigen DINGE der Welt durch ihre lexikalische Bezeichnung; wie es scheint, sind die lexikalischen Kategorien kaum universal durch die neurophysiologische Ausstattung des Menschen konditioniert, sondern es zeichnen sich ganz weitegehend kulturelle Besonderheiten ab, die jedoch nicht ohne wiederkehrende Muster sind.  Zu den thematisierten Bereichen gehören etwa die TIERWELT, die PFLANZENWELT, die FARBEN, die ORIENTIERUNG IM RAUM. Es dominiert die semasiologische Untersuchungsrichtung Wort → KONZEPT, aber gelegentlich (z.B. in den Bereichen KÖRPER, I QUATTRO ELEMENTI) wird die umgekehrte Richtung KONZEPT → Wort eingeschlagen.

In der Sache hat sich ethnolinguistische Forschung jedoch schon lange vor der Etablierung des Terminus etabliert; das gilt insbesondere für die Dialektologie (vgl. Krefeld 2019at; Link), wie im Verlaufe der Vorlesung noch genauer ausgeführt werden wird. Die Sprachatlanten, allen voran der programmatisch als Sprach- und Sachatlas konzipierte AIS, dokumentieren über die Auswahl unterschiedlicher Informanten auch durchaus kulturell ganz unterschiedliche Alltags- und Lebenswelten, so mindestens die städtische und die ländliche. Da der AIS jedoch so wie die allermeisten Sprachatlanten auf Vergleichbarkeit angelegt sind, werden die kulturell-lebensweltlichen Unterschiede gerade nicht in den Vordergrund gestellt. Das gilt außerhalb des städtischen Bereichs in ganz offensichtlicher Weise für die Lebenswelten der ortfesten Bauern im Gegensatz zu den mobilen Hirten einerseits und den Fischern andererseits (vgl. Krefeld 2019bb).

Fazit: Die Ethnolinguistik wird hier als eine Disziplin verstanden, die sprachliche Phänomene und ihre Veränderungen in ihrem kulturellen Kontext, d.h. in der dynamischen  Praxis der  "soziale[n] Handlungs- und Ordnungssystem[e]" (Quelle) verstehen will. In diesem Licht betrachtet, sollte man nicht (formale) ‘Linguistik’ und ‘Soziolinguistik’  einander gegenüberstellen, sondern (formale) ‘Linguistik’  in eine umfassende Ethnolinguistik einbetten.

Ethnolinguistik
  (formale) Linguistik  
 

Bibliographie

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  • AWB (1952-) = Frings, Theodor (1952-2015 ff.): Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias v. Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen, Leipzig, Sächsische Akademie der Wissenschaften (Link).
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  • Brekle 1985 = Brekle, Herbert Ernst (1985): Einführung in die Geschichte der Sprachwissenschaft, Darmstadt, WBG (Link).
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  • Culioli 1968 = Culioli, Antoine (1968): La formalisation en linguistique, in: Cahiers pour l’analyse, vol. 9, 106 - 117.
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  • Hug 2001 = Hug, Theo (Hrsg.) (2001): Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Hohengehren.
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  • Krefeld 2019at = Krefeld, Thomas (2019): (2019): Räumlichkeit der SPRACHE (ii) – Die areale und die territoriale Ebene, in: Lehre in den Digital Humanities, München (Link).
  • Krefeld 2019bb = Krefeld, Thomas (2019): AIS: Ethnolinguistik, in: Lehre in den Digital Humanities, München, LMU (Link).
  • Krefeld 2020f = Krefeld, Thomas (2020): Der Begriff des Zeichens, in: Lehre in den Digital Humanities, München, LMU (Link).
  • Krefeld 2020t = Krefeld, Thomas (2020): Ontologie – semiotisch betrachtet, in: Lehre in den Digital Humanities, München (Link).
  • LSJ = LSJ: The Online Liddell-Scott-Jones Greek-English Lexicon (Link).
  • Mersch 2001 = Mersch, Dieter (2001): Semiotik und Grundlagen der Wissenschaft, in: Hug 2001, vol. 4, Deutsche Gesellschaft für Semiotik, 323-338 (Link).
  • People/Bailey 2010 = People, James / Bailey, Garrick (92010): Humanity: An Introduction to Cultural Anthropology (9th ed.)., Wadsworth, Cengage Learning.
  • Saussure 1972 = Saussure, Ferdinand de (1972): Cours de linguistique générale [1916], Paris, Payot.
Den Ausdruck übernehme ich von Hans Martin Gauger; er verwendet ihn in der Einleitung zu Gauger/Osterreicher/Windisch 1981, 51.
Es gilt die übliche Notation: einzelsprachliche Formen, um die es im Text geht, werden kursiviert (Wörter). Wenn Ausschnitte der außersprachlichen Welt gemeint sind (KONZEPTE), werden sie in Großbuchstaben ausgedrückt. Dazu dieses Beispiel: "Das JUNGE SCHAF wird ita. als agnello, deu. als Lamm bezeichnet."
Es wird vollkommen übersehen, dass sich letztlich gerade jetzt, im Zuge der Überführung der Geisteswissenschaften in die Digital Humanities, der absolut visionäre Charakter des Saussureschen Entwurfs erweist: In der webbasierten Forschung ist es unbedingt erforderlich, die Bausteine der Information als eigene digitale Objekte anzulegen (die als solche im Internet identifiziert werden können). Dazu müssen ihnen persistente Identifikatoren (Normdaten, URLs, DOIs usw.) zugewiesen werden. Jedes digitale Objekt wird also gewissermaßen schon informationstechnisch mit einem Identifikator bezeichnet, das heißt zu einem ZEICHENINHALT gemacht. Erst auf dieser sozusagen digital-semiotischen Basis lassen sich ontologische Ordnungen oder Formationen operationalisieren; vgl. Krefeld 2020t.
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