Hinweis: der Inhalt dieses Beitrags beruht im Wesentlichen auf Krefeld 2017.
1. Spatial primitives
Drei Dimensionen bilden das grundlegende Ordnungssystem unseres Erfahrungsraums; aus ihnen wurde schon in der Antike das idealisierte Modell des orthogonalen euklidischen Raums abgeleitet.
Diese kontinuierlich erlebten und intuitiv evidenten Dimensionen haben sich in unseren Sprachen in vielfältigen lexikalischen Kategorien niedergeschlagen; allerdings entsprechen die Lexikalisierungen vollkommen anderen als den idealen Prinzipien der Geometrie. Der entscheidende Grund dafür ist in der Tatsache zu suchen, dass sich unser Erfahrungsraum grundsätzlich als multimodaler Wahrnehmungsraum konstituiert: Sobald ein wahrnehmendes Individuum (Perzipient) Realia (Perzepte) wahrnimmt, werden diese gleichzeitig mit der Wahrnehmung selbst auch unweigerlich lokalisiert. Mandler & Cánovas 2014 weisen zudem darauf hin, dass sich schon in der frühkindlichen Ontogenese die vorsprachliche Begriffsbildung auf der Grundlage von „spatial primitives“ vollzieht und dass diese kognitiven Fundamente im Wesentlichen über die visuelle Wahrnehmung vermittelt werden:
„It is true that auditory information can also have obvious structure and be imaged, making it potentially able to form image schemas. However, for sighted prelinguistic infants, auditory structures play a much more limited role in understanding what is going on around them.” (Mandler & Cánovas 2014, 18).
2. Raum als Wahrnehmungsraum
Als Wahrnehmungsraum ist unser Erfahrungsraum ein Produkt unser neurophysiologischen Ausstattung und insofern anthropomorph (und eben nicht geometrisch). Diese Bedingungen spiegeln sich in der Lexikalisierung räumlicher Konzepte wider. Nun ist es in der kognitiven Linguistik allerdings seit Johnson 1987 und Lakoff 1987 üblich, die räumliche Konzeptualisierung mit Hilfe von so genannten „image schemas“ zu modellieren (vgl. Rohrer 2005). Diese weit verbreitete Rekonstruktion hat jedoch einen Nachteil: Sie lässt leicht übersehen, dass zwei unterschiedliche semiotische Systeme zusammenwirken, nämlich ein symbolisches und ein deiktisches, oder, mit Karl Bühler gesprochen, ein Symbolfeld (vgl. Bühler 1965 [1934], 149-255) und ein Zeigfeld (vgl. Bühler 1965 [1934], 79-148). Das Symbolfeld liefert uns Zeichen, die es erlauben eine Lokalisierung von statischen Perzepten, von ihren Relationen oder von dynamischen Perzepten, d.h. von Bewegungen darzustellen; das Zeigfeld stiftet komplementär dazu einen Bezug dieser Perzepte zum Wahrnehmenden.
Die „image schemas“ sind aber in der Tradition der Gestalttheorie konzipiert und modellieren die Konzeptualisierung ausschließlich auf der Ebene der Perzepte, nämlich als Relation einer prägnanten Figur A („trajector“ in Langackers Terminologie) und einer Figur B als Bezugsperzept („landmark“ in Langackers Terminologie):
„I have defined a trajector as the figure in a relational profile; other salient entities are identified as landmarks“ (Langacker 1987, 231).
Die 'landmark' tritt zwar gegenüber dem 'trajector' zurück, ist jedoch deshalb keineswegs mit dem Hintergrund gleichzusetzen, der zusätzlich für beide stets gegeben ist. Selbstverständlich wird der Perzipient mit seiner neurophysiologischen Disposition und den zugehörigen Perzeptionsprozesse von der Gestalttheorie und den dadurch inspirierten kognitiven Modellen vorausgesetzt – er wird jedoch in der Gestalt nicht repräsentiert. In dieser Hinsicht sind sprachliche Zeichen komplexer als nicht sprachliche perzeptive Gestalten, denn der Perzipient selbst kann auch inhaltlich in die lexikalische Bedeutung eingehen (vgl. Krefeld 2014). Ein entsprechend modifiziertes Zeichenmodell auf der Grundlage von Blank 2001, 9 wurde in Krefeld/Pustka 2014, 15 vorgeschlagen (♦). Es integriert die konkrete Verarbeitung sensorischer Stimuli in die Semiose, d.h. in die Entstehung und Verfestigung bedeutungshaltiger sprachlicher Ausdrücke.
Die sprachlichen Mittel, mit denen die Verortung von Perzepten im dreidimensionalen Raum ausgedrückt wird, sind in idealer Weise geeignet, um die Berechtigung dieses perzeptiv pointierten Zeichenmodells zu bestätigen; zur Illustration werden einige grundlegende Versprachlichungstechniken des Deutschen und Italienischen im Folgenden skizziert.
2.1. Die deiktische Verankerung des Perzipienten in der horizontalen Fläche
Sofort zeigt sich ein substantieller Unterschied in der perzeptiven Fundierung der drei räumlichen Dimensionen, sowohl im Hinblick auf die Möglichkeit, räumliche Relationen zwischen salienten Perzepten A und B (zwischen 'trajector' und 'landmark') auszudrücken als auch im Hinblick auf die deiktische Verankerung, denn die z-Dimension steht für sich. Ein deiktischer Bezug zum Perzipienten kann hier nur syntaktisch durch Hinzufügung von Pronomina hergestellt werden, eine lexikalisierte Verbindung von Vertikalität und Perzipient scheint dagegen vollkommen zu fehlen: Die relative Höhe von FLUGZEUG, WOLKEN und MENSCH in der folgenden Abbildung (2) kann alternativ als Über- bzw. als Untereinander versprachlicht werden, ohne dass der Standpunkt des Perzipienten dabei einbezogen werden müsste.
Für den Ausdruck vertikaler Relationen stehen im Deu. und im Ita. gegensätzliche Präpositionen (deu. über ↔ unter | ita. sopra ↔ sotto), Adverbien (deu. oben ↔ unten | ita. sopra ↔ sotto) und Adjektive (obere ↔ untere | superiore ↔ inferiore) zur Verfügung. Man beachte, nebenbei gesagt, dass die Adjektive im D. und im Ita. nur für Objekte derselben Kategorie verwandt werden können: deu. oberes Stockwerk | ita. il piano superiore), aber nicht etwa für die in Abb. (2) vertikal angeordneten Objekte aus unterschiedlichen Kategorien:
- *L'aereo superiore oder *le nuvole inferiori sind für die Konstellation in Abb. (2) ebenso unmöglich wie das *obere Flugzeug oder die *unteren Wolken.
Auch die vertikale Bewegung von Einzelobjekten lässt sich verbal ausdrücken ( deu. fallen ↔ steigen | ita. salire ↔ cadere [cascare]), ebenfalls unabhängig vom Perzipientenstandpunkt.
Ganz anders verhalten sich die beiden horizontalen Dimensionen; die Verwendung der alternativen und kontradiktorischen Ausdrucksmittel hängt vom Perzipientenstandpunkt ab.
Die Entbindbarkeit der y-Dimensionen vom Perzipienten ist bei der sprachlichen Darstellung sehr stark eingeschränkt; sie ist eigentlich nur mehr bei der Verwendung mancher Verben möglich, nämlich dann wenn beide Objekte in Bewegung sind: Die Bedeutung von deu. A folgt B | ita. A segue (a) B ist vollkommen klar und unabhängig von der Positionierung des Perzipienten. Bereits die Antonymie der Bewegungsverben deu. kommen, gehen | ita. venire, andare beruht auf der gegenläufigen HER-Deixis (‚zum Perzipienten‛) und HIN-Deixis (‚weg vom Perzipienten‛). Die statische Lokalisierung der Frau und des Mannes in Abb. 3 setzt schließlich ebenfalls einen Standort der Perzeption voraus, der jeweils die alternative Kategorisierung als d. vor | ita. prima di (Standort hinter dem Mann) oder aber als deu. hinter | ita. dietro di, dopo (Standort vor der Frau) konditioniert.
Im Fall der x-Dimension ist der Standort in jedem Fall obligatorisch, denn hier stehen nur Ausdrücke zur Verfügung, die sich auf die Lateralität des Körpers des Perzipienten in Blickrichtung beziehen, nämlich deu. Adj. rechte, Adv. rechts ↔ Adj. linke, Adv. links | ita. Adj. destro, Subst. destra (wohl elliptisch aus mano destra ‚rechte Hand‛) ↔ Adj. sinistro, Subst. sinistra. Verben für laterale Bewegungen (analog zu deu. fallen, steigen) mit der Bedeutung ‚sich nach rechts bzw. nach links bewegen‘ gibt es weder im Deutschen noch im Italienischen.
Die beiden lateralen Kategorien LINKS | RECHTS sind in den allermeisten Sprachen der Welt lexikalisiert, wenngleich sie nicht im strengen Sinne universal zu sein scheint, wie das Beispiel der australischen Sprache Guugu Yimidhirr zeigt (vgl. Levinson 1996).
In jedem Fall kann man festhalten, dass die elementare Lexikalisierung der Lateralität (x-Dimension) in anthropomorpher Sicht bereits die y-Achse, nämlich die Blickrichtung voraussetzt, und die Blickrichtung ist ja auch die Richtung des kontrollierten Greifens und der ‚normalen‘ Fortbewegung. Lateralität impliziert daher Frontalität. Die Trennung der x- und y-Dimension ist analytisch sinnvoll; aber beide sind hierarchisch miteinander verknüpft, so dass eine kategorische Trennung in der perzeptiven Rekonstruktion des Raums nicht angemessen ist.
Die nach Dimensionen gestaffelte Abhängigkeit der räumlichen Kategorisierung von der Perzipientendeixis lässt sich wie folgt schematisieren:
Dimension | relationale, statische Perzepte | dynamische Perzepte (Bewegungsverben) |
z | - | - |
y | Präpositionen, Adverben | Verben |
x | Adjektive, Adverben | - |
Gemessen an der Lexikalisierung steht der Perzipient einerseits im Zentrum – am Nullpunkt – der beiden horizontalen Dimensionen, die ausgehend von seinem Standort in gegenläufigem Sinn perspektiviert werden und andererseits unbeteiligt neben der vertikalen Dimension:
In dieser wahrnehmungsbasierten Raumkonstruktion ist zunächst leicht nachvollziehbar, dass es keine eindeutigen Bezeichnungen für die drei Dimensionen als solche gibt; denn sie entziehen sich in ihrer Abstraktheit der eigentlichen Wahrnehmung und werden nur sekundär als Umgebung der Dinge mitverstanden.
In der d. Alltagssprache spricht man zwar von Höhe (z), Breite (x), Tiefe/Länge (y) und ita. analog von altezza (z), larghezza (y), lunghezza (x), aber dabei handelt es sich offenkundig um deadjektivische Abstrakta; zu Grunde liegen Bezeichnungen für Attribute von Perzepten, die zudem teils synonym sind (tief kann auch auf die Vertikalität [z] referieren) und deren Referenz teils vom Format des Perzepts abhängen: Die Verwendung von deu. breit | ita. largo und lang | ita. lungo ist nicht auf die beiden horizontalen Dimensionen festgelegt, sondern wird durch das relative Maß gesteuert, so dass die relativ kürzere Seite auch dann als breit oder tief | ita. largo (oder in besonders salienten Fällen als d. schmal | ita. stretto) bezeichnet wird, wenn sie in der y-Dimension liegt:
In räumlicher Hinsicht polysem ist übrigens auch deu. hoch, denn es ist nicht auf die z-Dimension beschränkt, sondern kann auch eine große Entfernung auf der y-Achse bezeichnen: auf hoher See ist man nicht dort, wo das Meer besonders tief ist, sondern dort, wo man weit von der Küste entfernt ist; ita. übernimmt largo ‚breit‛ diese Bedeutung, vgl. essere al largo ‚auf hoher See sein‛.
2.2. Der Köper als Quelle metaphorischer Lokalisierungsausdrücke
Die anthropomorphe Kategorisierung des Raums erweist sich jedoch nicht nur in der Bindung semantisch primärer lexikalischer Kategorien an die Perzipientenperpektive; sie zeigt sich auch in sekundären Bedeutungsübertragungen, mit denen die Relationierung von Perzepten im Raum ausgedrückt wird. Wenn ein Perzept A (als saliente Figur oder ‚trajector‛) in Relation zu einem anderen Perzept B (als zurücktretender Hintergrund oder ‚landmark‛) lokalisiert wird, wird das Bezugsperzept B oft metaphorisch als menschlicher Körper konzeptualisiert. Die drei Dimensionen werden daher mit entsprechenden Organen oder Körperteilen assoziiert, so dass sich die z-Dimension an KOPF und FUSS, die x-Dimension vor allem an STIRN und RÜCKEN (auch SCHULTERN) und die y-Dimension an RECHTS (d.h. der RECHTEN HAND) und LINKS (der LINKEN HAND) sowie an den FLANKEN orientiert.
Vor allem im Italienischen ist dieser Bildspendebereich massiv lexikalisiert ausgebaut worden, insbesondere in Gestalt mehrgliedriger präpositionaler Ausdrücke. Dazu finden sich in allen drei Dimensionen Beispiele:
z-Dimension
- (1) in capo alla scala ‚oben auf der Treppe‛ (wörtlich: ‚am Kopf der Treppe‛)
- (2) un giardino ai piedi della torre ‚ein Garten zu Füßen des Turms‛
y-Dimension
- (3) un albergo situato sulla spiaggia di fronte all’oceano ‚ein Hotel gegenüber des Ozeans‛ (wörtlich: ‚von der Stirn [aus] zum Ozean‛)
- (4) la casa appetto alla mia ‚das Haus, das meinem gegenüberliegt‛ (< a + petto; wörtlich ‚das Haus an der Brust von meinem‛)
- (5) un albergo dirimpetto alla stazione ‚ein Hotel gegenüber des Bahnhofs‛ (< di + ri + in + petto, wörtlich: ‚von in-die-Brust zurück‛)
- (6) un bar alle spalle del palazzo ducale ‚hinter dem Herzogspalast‛ (wörtlich: ‚an den Schultern des H.‛)
- (7) sedere in capo di tavola (oder als Kompositum a capotavola) ‚am Kopf des Tisches‛
x-Dimension
- (8) la strada che corre di fianco al canale ‚die Straße, die entlang des Kanals verläuft‛ (fianco bezeichnet eigentlich die Weiche, also den seitlichen Abschnitt des Körpers von der untersten Rippe bis zur Hüfte)
Seltener ist die analoge Metaphorisierung des salienten Perzepts nach dem Modell des Körpers, wie zum Beispiel in Bezug auf die y-Dimension in:
- (9) un armadio addossato al muro ‚ein an die Wand gelehnter Schrank‛ (zu dorso ‚Rücken‛).
Man beachte auch hier die explizite Voraussetzung der Blickrichtung von vorn: der Schrank ist mit der Rückseite an die Wand gelehnt; das erwähnte di fronte (3) impliziert dagegen die Blickrichtung von hinten.
3. Sprachliche Reflexe der Asymmetrie des Wahrnehmungsraums
Im dritten Abschnitt wurde gezeigt, dass die lexikalischen Kategorien Indizien für eine Positionierung des Perzipienten an einer Art Nullpunkt der horizontalen Fläche liefert (vgl. Abb. 7); von dieser Position aus werden die beiden relevanten Dimensionen (y | x) kontradiktorisch und alternativ als VOR oder HINTER und RECHTS oder LINKS kategorisiert und gewissermaßen perspektiviert. Die damit identifizierten Zonen sind zwar komplementär, aber keineswegs geometrisch, wie sich wiederum aus sprachlichen Hinweisen klar ergibt.
Die Lateralität (x-Dimension) ist eindeutig durch die dominante Rechtshändigkeit bestimmt, die zur Verfestigung folgender Assoziationen geführt hat:
- RECHTS ist kognitiv mit als mit GUT, GESCHICKT, ANGEMESSEN verknüpf, wieder evidente etymologische Zusammenhang von rechts, richtig, richten, Recht usw. zeigt; vgl. Kluge (2011) s.v. recht: „Aus g. *rehta- Adj. ‚recht, gerade, richtig‘ […]. Wie gleichbedeutendes lat. rēctus, gr. orektós to-Partizip zu ig. *reǵ- ‚lenken, richten, leiten‘ in l. regere, gr. orégō ‚ich recke mich’, ai. irajyáti ‚ordnet an, lenkt‘, ai. ṛjyati, ṛñjáti ‚streckt sich, eilt‘, air. reraig ‚lenkte‘, lit. rąžýti ‚straffen, recken‘“ (Online-Ausgabe o.S.).
- LINKS ist dagegen mit SCHLECHT, UNGESCHICKT, UNHEILVOLL assoziiert; vgl. Kluge (2011) s.v. link: „Das Wort bedeutet eigentlich ‛ungeschickt’ (wie die Bezeichnungen für ‛links’ überhaupt immer wieder aus diesem Bedeutungsbereich erneuert werden); vgl.hierzu linkisch und weiter nschw. linka ‚hinken‘“ (Online-Ausgabe o.S.). Ähnliches gilt für ita. sinistro ‚linke‘, das auch ‚ungünstig, bedrohlich‘ u.a. bedeutet und als Substantiv ‚Unglück, Unfall‘.
Analog dazu kommt von HINTEN nichts Gutes; man hat im D. die Angst im Nacken und im Ita. una tragedia alle spalle (‚an den Schultern‘) usw. VORN liegt dagegen der Fortschritt (zu lat. progressus), denn die Gehrichtung entspricht in aller Regel der Blickrichtung. Wenn man dagegen die Nachsicht hat, ist eigentlich alles zu spät…
Ein schönes Beispiel zur spontanen Präferenz der Frontalität gegenüber der Dorsalität gibt der italienische Sprachatlas; der Stimulus CADE SUPINO – ER FÄLLT RÜCKLINGS HIN (AIS 1621) Jaberg & Jud 1928-1940) wurde von den sizilianischen Informanten durchweg mit Formulierungen wie cadi (cu) a ppants all’ ariu, d.h. wörtlich ‚fällt den (mit dem) Bauch in die Luft‘ oder cade (ku) a facci all’ariu, wörtlich ‚fällt das (mit dem) Gesicht in die Luft‘ wiedergegeben.