1. Sprache als Architektur von Varietäten
Das Italienische lässt sich, so wie die anderen ‘großen’ europäischen Sprachen als ein Gefüge aus Varietäten beschreiben, die auf zwei unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind: Auf einer arealen Ebene existieren zahlreiche, sehr unterschiedliche lokale Dialekte, die auf einer übergeordneten, territorialen Ebene durch die nationale Standardvarietät (‘Hochsprache’) überdacht werden. In diesem Sinn kann man von einer zweistöckigen Architektur der italienischen Sprache reden.
Diese Modellierung erlaubt es in diachronischer Absicht auch, den Gegenstand der Sprachgeschichtsschreibung zu präzisieren, denn im Kern der Sprachgeschichte stehen die Entstehung und Entwicklung der Varietätenarchitektur. Dabei sind mediengeschichtliche und räumliche, genauer: kommunikationsräumliche Aspekte grundsätzlich zu unterscheiden, obwohl beide eng miteinander verflochten sind.
1.1. Der mediengeschichtliche Aspekt der Varietätenarchitektur
Grundlegend für das historische Verständnis der zweistöckigen Architektur ist die Tatsache, dass die Standardsprache, die den einzelsprachlichen Varietätenraum überhaupt erst konstituiert und zusammenhält, zunächst vor allem - wenn nicht ausschließlich - in der Schriftlichkeit verwendet wurde; in diesem Sinn ist sie ‘Schriftsprache’. Es muss allerdings sofort hinzugefügt werden, dass die Schriftsprache ihre starke Bindungskraft nicht eigentlich aus der Schrift als solcher, sondern erst aus der gedruckten Schriftlichkeit entwickelt: Man kann sagen, dass die erste mediale Revolution, der Buchdruck, zu massenhafter Verbreitung und allgegenwärtiger Präsenz der geschriebener Sprache geführt hat. Es ist auch kein Zufall dass nicht nur in Italien, sondern in vielen europäischen Ländern (Frankreich, Spanien, England, Deutschland usw.) durch den Buchdruck starke Standardisierungsprozesse in Gang gesetzt wurden. Sie sind in Italien mit der Leistung von Pietro Bembo verknüpft, dessen Prose della volgar lingua einen einheitlichen Standard etablierten, der sehr bald weite Akzeptanz gefunden hat. Grundlage waren toskanisch, genauer: florentinisch, verfasste literarische Texte des 14 Jhs. in ihrer ebenfalls von Bembo um die Jahrhundertwende speziell für den Druck vorbereiteten vereinheitlichten Textgestalt (vgl. Bembo 1966). Bembo hat zunächst in enger Zusammenarbeit mit dem berühmten venezianischen Drucker Aldo Manuzio Texte von Petrarca und Dante editiert; es ist also verkürzt zu sagen, Bembo habe ausgehend von den Autoren des Trecento standardisiert, denn er hat diese Standardisierung erst im Anschluss an die vereinheitlichte Textgestalt entwickelt, die er selbst für den Druck seiner Dante und Petrarca-Editionen entwickelt hatte (vgl. Trifone 1993 und aus eher literaturwissenschaftlicher Sicht Mehltretter 2009). Die zunehmende Entfaltung und Differenzierung der einzelsprachlichen Schriftlichkeit wird mit einem glücklichen Ausdruck von Heinz Kloss (vgl. Kloss 1978) in der Regel als sprachlicher Ausbau (ita. elaborazione) bezeichnet. Standardisierungsprozesse werden von Kloss auch unter diesen Begriff gefasst; seit Einar Haugen (vgl. Haugen 1966) werden sie jedoch oft als eigene Instanz behandelt.
Dass die standardisierte Schriftsprache ihre ‘architektonische’, varietätenbindende Kraft offenkundig mit der Durchsetzung des Buchdrucks gewinnen konnte, zeigt ein Vergleich mit der Geschichte des Lateinischen: denn diese Sprache verfügt zwar über eine außerordentlich lange und stabile Schriftlichkeit, aber diese handschriftliche Tradition hat der sehr ausgeprägten, man möchte sagen: extremen, Divergenz und Dialektbildung von Portugal bis Rumänien offenkundig nicht entgegengewirkt: Der gedruckte Standard erzeugt dagegen Konvergenz und Reduktion der dialektalen Vielfalt, wie nicht nur das Beispiel des Italienischen zeigt.
Für die Notwendigkeit, die Schrift als solche von ihrer technischen Diffusion zu unterscheiden spricht auch die Tatsache, dass die zweite mediale Revolution durch die Neuen Medien (seit ca. 2000), die zu einer gewaltigen Vermehrung und Generalisierung des Schriftgebrauchs geführt hat, Divergenz und Destandardisierung zu befördern scheint: Es wird in den Neuen Medien sehr viel in standardfernen Varietäten und Dialekten geschrieben und auch sehr gebildete Schreiber legen weniger Wert auf korrekte Orthographie, wenn sie die Standardvarietät in diesen Medien verwenden. Es könnte sein, dass die Schriftlichkeit der Neuen Medien die Dialekte und Kleinsprachen stützt - und die traditionelle Standardvarietät schwächt. Die Mediengeschichte hat vor allem über den Begriff des sprachlichen Ausbaus Eingang in die Sprachgeschichtsschreibung gefunden.
1.2. Der räumliche Aspekt der Varietätenarchitektur und ihrer Geschichte
Der räumliche Aspekt der zweistöckigen Modellierung ist selbstverständlich; dafür hat Heinz Kloss den anschaulichen Terminus ‘Überdachung’ geprägt; in Anschluss daran wird häufig auch von ‚Dachsprache‘ geredet (vgl. Muljačić 1989), obwohl dieser Ausdruck ein wenig irreführend ist: Es handelt sich strenggenommen nur um eine Dachvarietät, die jedoch - wie skizziert - konstitutiv für die einzelsprachliche Architektur der Varietäten ist. Die neuzeitlichen, d.h. nach der Durchsetzung des Buchdrucks standardisierten Dachvarietäten setzen eine erhebliche sprachräumliche Dynamik frei, da die Überdachung zur Erosion der überdachten Ebene und nicht selten auch zur völligen Verdrängung überdachter Idiome und Dialekte.
1.3. Die sprachliche Architektur und die Periodisierung der italienischen Sprachgeschichte
Die Entstehung und Entwicklung der 'zweistöckigen' Architektur des Italienischen lässt sich also zusammenfassend als eine Jahrhunderte währende Verschränkung von Ausbau- und Überdachungsprozesse modellieren. Dabei können im Einzelnen Phasen unterschieden werden, die stärker (wenngleich niemals ausschließlich) im Zeichen des medialen Ausbaus oder aber der räumlichen Überdachung stehen (vgl. Krefeld 1988). Da die ersten Zeugnisse romanischer Schriftlichkeit keineswegs den Beginn fester und kontinuierlicher Ausbautraditionen markieren, ist es sinnvoll als erste Epoche eine 'Vorausbauphase' anzusetzen. Die folgende Periode erster stabiler Ausbautraditionen ist einerseits durch einen starken regionalen Pluralismus gekennzeichnet und lässt andererseits noch keine Überdachungstendenzen erkennen; sie ist daher auf der arealen Ebene der lokalen Idiome (= EBENE 1 in der folgenden Abb.) anzusiedeln. Mit der zunehmenden Überdachung durch das Toskanische beginnt eine lange monozentrische Periode, die zunächst ausschließlich die Schriftlichkeit und schließlich, 300 Jahre später, nämlich nach der unità (1861) auch die Mündlichkeit erfasst und zur Entstehung eines nationalstaatlichen sprachlichen Territoriums führt (= EBENE 2).
Um die historische Verankerung, insbesondere den Beginn der jeweiligen Perioden zu verstehen, ist es wichtig, die Mediengeschichte explizit einzubeziehen. Es zeigt sich, dass die beiden medialen Revolutionen, die unsere europäische Kulturgeschichte seit dem Mittelalter geprägt haben - der Buchdruck und in in jüngster Zeit die Neuen Medien - sich hier eindeutig abbilden lassen. Wie es scheint, haben beide völlige gegenläufige Auswirkungen. Im Gegensatz zum Buchdruck, der die monozentrische Überdachung sowie die damit einhergehende Standardisierung ganz massiv begünstigt und beschleunigt (wenn nicht gar überhaupt ermöglicht) hat, markieren die Neuen Medien eine Periode der Destandardisierung, die mit einem initialen plurizentrischen Ausbau der lokalen Idiome ohne Überdachungsanspruch einhergeht. Vor diesem Hintergrund lässt sich die italienische Sprachgeschichte in die folgenden fünf Perioden einteilen:
2. Zwei Perspektiven der Beschreibung
Es ergeben sich zwei entgegengesetzte Betrachtungsperspektiven, die einerseits als ‘national’ und andererseits als ‘regional’ bezeichnet werden können.
2.1. Die nationale Perspektive
Die nationale Perspektive zielt auf die Entstehung der Standardvarietät (vgl. dazu Krefeld 2007b). In dieser Perspektive liegen im Wesentlichen folgende Forschungsbereiche und Erkenntnisinteressen:
- die areale Basis der Standardvarietät, d.h. das geschriebene Florentinisch, und sein zunehmender Gebrauch in der Schriftlichkeit, d.h. die Erschließung von Diskurstraditionen und Textsorten (‘Ausbau’) in Konkurrenz zum geschriebenen Latein;
- die seit dem 16. Jahrhundert (vgl. Bembo 1966) erfolgende Standardisierung;
- die zunehmende territoriale Durchsetzung der Standardvarietät und die damit verbundene Verdrängung regionaler und lokaler Schreibtraditionen (‘Überdachung’);
- die erst nach der Gründung des italienischen Nationalstaats (1861) großräumig fortschreitende Verbreitung des Standards in der Mündlichkeit; diese ‘mündliche Überdachung’ des staatlichen Territoriums konstituiert eine eigene Periode der Sprachgeschichte (vgl. immer noch grundlegend De Mauro 1963).
Die regionalen oder gar lokalen Sprachverhältnisse der arealen Ebene kommen in dieser Perspektive nur dann in den Blick, wenn sich ein starker historischer Bezug zur territorialen Ebene ergibt; das betrifft eigentlich nur die Zeit vor der Standardisierung, d.h. vor ca. 1500, und zwar einerseits im Hinblick auf die Anfänge der nicht-lateinischen Schriftlichkeit (‘Vorausbauphase’) und andererseits hinsichtlich der in unterschiedlichen Regionen mehr oder weniger parallel einsetzenden, plurizentrischen Ausbauprozesse. Eine Region ist nur als Teil des nationalen Territoriums von Interesse; Sizilien wird in diesem Sinn als genuin italienischer Gegend wahrgenommen.
2.2. Die Regionale Perspektive
Die nationale Perspektive ist in hohem Maße dem Risiko der Teleologie ausgesetzt (vgl. dazu Oesterreicher 2007), d.h. sie neigt dazu die Entstehung des Nationalstaats als Ziel anzusehen, auf dessen Erreichen die geschichtliche Entwicklung hinauslaufen sollte. Entsprechenden Auffassungen liegt eine (womöglich nicht reflektierte) positive Wertung des Nationalstaats zu Grunde; sie tendieren stark dazu, bevorzugt solche historischen Prozesse und Ereignisse in die Geschichtsschreibung einfließen zu lassen, die im Sinne einer Wegbereitung des Nationalstaats gedeutet werden können. Gleichzeitig werden gegenläufige Entwicklungen und Szenarien in den Hintergrund gerückt. Gerade Siziliens war jedoch im Laufe seiner Geschichte in sehr unterschiedliche kulturelle und geopolitische Kontexte eingebunden. Die damit verbundenen Migrationsbewegungen haben die Entwicklung der arealsprachlichen Verhältnisse sehr deutlich geprägt und zur Sonderstellung des Sizilianischen geführt. Zusätzlich zur mittelalterlichen Zuwanderung aus dem Nordwesten des heutigen Italien, erfolgten markante Einflüsse aus Griechenland, Nordafrika, aus der Normandie, aus der Provence und von der Iberischen Halbinsel. Die folgenden Karte deutet diesen Zusammenfluss unterschiedlicher romanischer und nicht romanischer sprachlicher Elemente:
Bibliographie
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- De Mauro 1963 = De Mauro, Tullio (1963): Storia linguistica dell'Italia unita, Bari, Laterza.
- Haugen 1966 = Haugen, Einar Ingvald (1966): Language conflict and language planning: The case of modern Norwegian, Cambridge (Mass.), Harvard University Press.
- Kloss 1978 = Kloss, Heinz (1978): Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800 (1952), Düsseldorf, Schwann.
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- Marcato/Ursini 1998 = Marcato, Gianna / Ursini, Flavia (1998): Dialetti veneti: grammatica e storia, Padova, Unipress.
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- Muljačić 1989 = Muljačić, Žarko (1989): Über den Begriff Dachsprache, in: Status and Function of Languages and Language Varieties, Berlin/New York, de Gruyter, 256-275.
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- Trifone 1993 = Trifone, Pietro (1993): La lingua e la stampa nel Cinquecento, in: Serianni, Luca/Trifone, Pietro (Hrsg.), La lingua e le istituzioni (in: Storia della lingua italiana I: I luoghi della codificazione), Torino, Einaudi.