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Die Islamisierung Siziliens und der arabische Sprachkontakt

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Zitation: Thomas Krefeld (2021): Die Islamisierung Siziliens und der arabische Sprachkontakt. Version 4 (14.01.2021, 12:50). Lehre in den Digital Humanities. , url: https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=113143&v=4



1. Die Islamisierung

Die arabische Herrschaft währte in Sizilien ca. 250 Jahre, aber das Arabische blieb auch darüber hinaus eine präsentes Adstrat, da auch die sizilianischen Juden neben dem Hebräischen (für religiöse Zwecke) und dem Sizilianischen im Alltag dominant diese Sprache verwendeten (vgl. Caracausi 1983, 53 ff.):

"Quanto alla conquista della Sicilia da parte degli Arabi, essa ebbe luogo, com’è noto a partire almeno dall’827 [...] e sarebbe durata per quasi due secoli e mezzo, fino all’arrivo dei Normanni. Ma la conquista di Palermo nel 1072 da parte di questi ultimi non segnò la scomparsa immediata della lingua araba in Sicilia. Soltanto nel 1246 con la terza deportazione degli Arabi a Lucera (Foggia) o, per meglio dire, solo dopo il 1492, in seguito all’espulsione degli Ebrei dall’isola, si può affermare che l’arabo non fu più usato in Sicilia [...]." (Sgroi 1986, 23)

Am stärksten arabisiert wurden im Lichte der sprachlichen Befunde der Westen und Süden Siziliens, also grosso modo das Gebiet zwischen Palermo, Trapani, Agrigento und Ragusa (vgl. Trovato/Valenti 2013, 37). Dieser Prozess wurden von unterschiedlichen Stämmen getragen, die nicht nur von der arabischen Halbinsel, sondern auch aus Syrien, dem Irak, dem Iran, Ägypten und Nordafrika kamen; es waren auch viele Berber darunter, die ihr Zentrum wohl im Südwesten zwischen Mazara del Vallo und Licata hatten (vgl. Varvaro 1981, 83 f.). Zwei Berberismen sind:

siz. bbabbaluci ‘Schnecke (mit Haus)’ (AIS 459; Link) < arab. Maghreb bābuš (vgl. Pellegrini 1972b, 68 und Trovato/Valenti 2013, 47)
siz. cufuruna ‘Schildkröte’ (AIS 450, Liste in der Legende, P 821; Link) < arab. Maghreb fakrūn(a) < berb. fakrūn (vgl. Pellegrini 1972b, 68 und Trovato/Valenti 2013, 47)

Offensichtlich erfolgte eine dichte Besiedlung:

"La campagna è intensamente coltivata e abitata, berberi arabizzati e siciliani convivono gomito a gomito. L'arabo è la lingua di prestigio e nelle campagne, oltre che in città, si creano le condizioni per il bilinguismo arabo-siciliano, di cui il dialetto ci restituisce ancora oggi i frustoli." (Trovato/Valenti 2013, 37)  

Das Sozial- und Wirtschaftssystem hat sich in dieser Zeit substantiell geändert, denn der Großgrundbesitz verschwand, wie bereits der bedeutende Historiker Michele Amari (108-1889; Link) herausgearbeitet hat:

"il conquisto musulmano guarì la piaga dei latifondi, la quale avea consumata la Sicilia fino al secolo nono, e ricomparve con la dominazione cristiana del duodecimo." (Amari 1933, zit. zit. in Varvaro 1981, 87)

Außerdem wurde ein neues Steuersystem mit einer Abgabe aller Landbesitzer (zakāt; Link) sowie einer zusätzlichen Landsteuer (arab. haradsch) und einer Kopfsteuer der Ungläubigen eingeführt. Amari rekonstruiert im Gefolge des  gesellschaftlichen Wandels die Entstehung einer - modern ausgedrückt - sizilianischen Identität:

"Per lo storico, dunque, al di là della differenza di religione, esiste una patria siciliana ed una solidarietà siciliana." (Varvaro 1981, 85)

Aus christlicher Sicht resümiert Varvaro:

"Si viveva dunque in una tranquillità relativa, sempre sotto l’incubo di una possibile persecuzione." (Varvaro 1981, 103)

2. Sizilianische Arabismen

Über die genauen sprachlichen Adstrat- und Mehrsprachigkeitsverhältnisse zur Zeit der arabischen Eroberung wissen wir zwar wenig:

"Dall’occupazione bizantia alla conquista araba le condizioni linguistiche della Sicilia rimangono avvolte da un velo fitto di nebbia [...]" (Caracausi 1983, 55)

Aber aus heutiger Sicht lassen sich zahlreiche Spuren in der Toponymie sowie arabische Entlehnungen in den sizilianischen Dialekten feststellen.

2.1. Toponymie

Wie immer ist die Toponomastik ein wichtiges Instrument zur Rekonstruktion regionaler Siedlungsgeschichte. Im Fall Sizilien springt sofort der Unterschiede zwischen den überwiegend an der Küste liegenden städtischen Zentren und den ländlichen Gebieten ins Auge. Während wir im Fall der Zentren eine starke Namenkontinuität aus griechischer und allgemein vorarabischer Zeit haben (vgl. Karte 1; Link), gilt das in ländlichen Gebieten gerade nicht, denn dort hat sich die Aufgabe der Latifundienwirtschaft offenkundig in zahlreichen Neubenennungen niedergeschlagen:

"Il frazionamento del latifondo [...] dà luogo a un gran numero di toponimi nuovi che arricchiscono il lessico toponomastico siciliano." (Trovato/Valenti 2013, 37)

Häufige Benennungstypen sind:

  • cala/calt-   < arab. cal’a ‘Burg, Festung’: Calatafimi, Calamònaci, Calatrasi, Calascibetta, Caltagirone, Caltabellotta, Caltavuturo;
  • gibil < arab. ǧebel1 ‘Berg’
  • racal- <arab. rahl ‘Weiler’: Racalmuto, Regalbuto;
  • misi-/mezzo- arab.  manzil ‘Aufenthaltsort’: Misilmeri < manzil al-amir, Mezzoiuso < manzil yusuf ‘Ort von Jusuf’;
  • favara < arab. fawwara ‘Quelle’: Favara bei Agrigento, favara auf Pantelleria;
  • marsa < arab. marsa ‘Hafen’: Marsala < marsa Aly ‘Hafen von Ali’;
  • arab. ’ayn ‘Quelle’;
  • ráisi ‘Leiter einer Gruppe von Fischern; Kap, Vorgebirge’ < arab. rā’s ‘Kopf, Vorgebirge’ (vgl. VSES, 832)

Im Hinblick auf die sprachgeschichtlich wichtige Phase der romanisch-sizilianischen Zweisprachigkeit - und damit letztlich auch der Kontinuität des Romanischen - verdienen die Hybridnamen besondere Aufmerksamkeit, denn sie spiegeln unterschiedliche Phasen der Zweisprachigkeit wider, wie sich an den Formen mit der Basis gibil | gebel schön zeigen lässt.2 Unter anderen finden sich: Gibilmanna, Gibilrossa, Mongibello (der siz. Name des Ätna, it. Etna).

Zwei davon sind hybrid, wie die folgende Tabelle zeigt:

siz.
Toponym
roman.
Synonym
arab.
Basis
arab.
Attribut
roman.
Attribut
   
Gibilmanna   ǧebel mannah   ‘Berg der Gnade’  
 
Gibilrossa
  ǧebel ru’ūs     ‘Berg + Spitzen’  
  ǧebel rossa ‘roter Berg’ hybrid
Mongibello monte ǧebel     ‘Bergrom.+Bergarab.

Die Entstehung der einen hybriden Form, Gibilrossa, setzt voraus, dass die Bedeutung der arab. Basis (ǧebel) den  Sprechern noch eher geläufig war, als die Bedeutung des (weniger frequenten?) Attributs ru’ūs, so dass es durch ein lautlich ähnliches, aber semantisch verschiedenes Wort in volksetymologischer Umdeutung ersetzt wurde. Im Fall von Mongibello könnte man eine bereits weiter fortgeschrittene Erosion der arabischen Sprachkenntnisse in der lokalen Bevölkerung vermuten, so dass auch die Basis gebel bereits eine Erklärung durch tautologische Übersetzung  notwendig werden ließ.

Ähnlich hybride Toponyme ließen sich gewiss finden; der hybride Übersetzungstyp liegt z.B. vor in punta Raisi, der Bezeichnung eines Kaps  westlich von Palermo:

siz. Toponym romanisches Synonym arabische Basis
punta Raisi punta ‘Spitze, Vorgebirge arab. rā’s ‘Kopf, Vorgebirge’

Arab. ǧebel und rā’s in der sizilianischen Toponymie

Schließlich gibt es auf den ersten Blick nur schlecht oder gar nicht erkennbare Namen, deren ursprünglich arabische Konstituenten vollständig durch semantisch vollkommen andere romanische Formen ersetzt wurden; mehrfach belegt ist die Substitution von arab. ’ayn ‘Quelle’ durch siz. donna ‘Dame’;3 der Grund für diese semantisch nicht motivierte Übertragung liegt in der Phonetik, nämlich in der Substitution des initialen arabischen Konsonanten, eines Kehlkopfverschlusslauts (eng. glottal stop; Link), der in lateinischer Transliteration hier durch das Zeichen ’ wiedergegeben wird (Link) durch /d/. So konnte arabisch ’ayn ’azīzah 'hervorragende Quelle’ als Donna Sisa ‘Frau Sisa (Kurzform für Susanna)’  aufgefasst werden (zwei mittelalterliche Beispiel aus Trapani und Palermo in Caracausi 1983, 114. Auch andere siz. Toponyme wie Donna Fugata, Donna Lucata sind analog auf arabische Quellnamen zurückzuführen. Es kann sogar noch eine zweite Substitution erfolgen, wenn siz. donna durch das (weitgehend) synonyme fímmina ‘femmina’ ersetzt wird; so führt eine Bezeichnung eines Gebirgspasses wie putteḍḍa fimmina motta (ita. portella femmina morta) womöglich auf die arabische Bezeichnung einer ‘toten’, d.h. versiegten Quelle zurück; die Lokalisierung geht aus der Karte hervor:

arab. ’ayn ‘Quelle’, → phonetisch adaptiert, semantisch remotiviert donna, → substituiert durch syn. fimmina

2.1.1. Toponomastischer Epilog

Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass ein entsprechendes Nebeneinander wohl die meisten Gegenden kennzeichnet, die einen Sprachwechsel durchlaufen haben, so etwa auch Bayern im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter:

Deutsche Form   lat. Basis   deutsches Synonym
Erhalt: Kempten  < lat. Cambodunum    
Hybrid: Weilheim < lat. Villa  + Heim
Ersatz: Salzburg   lat. Iuvavum    

2.2. Toponomastik, Siedlungskontinuität und konfessionelle Kontinuität 

Auch aus dem Bruch der Namenkontinuität muss man jedoch nicht unbedingt auf einen parallelen Bruch der romanischen Sprachkontinuitä schließen, wie Varvaro festhält:

"l rinnovamento toponomastico è, almeno nelle campagne, molto forte e presuppone, per i suoi modi e la sua incidenza nel tempo lungo, un’arabizzazione tutt’altro che superficiale. Ma questo non significa per nulla una rottura generalizzata della continuità di insediamento nei centri abitati minori [...]" (Varvaro 1981, 94)

Diese Vermutung Varvaros lässt sich gelegentlich ethnographisch oder - wie im folgenden Beispiel - auch religionsgeschichtlich stützen; so zitiert er eine arabische Chronik des 9. Jahrhunderts von Ibrahim ibn Ahmad (Link), in der von der Kennzeichnung der nicht islamischen Bevölkerung die Rede ist:

"che portassero sulle spalle una toppa bianca, con la figura, i Giudei d’una scimmia e i Cristiani d’un maiale; e che gli stessi animali si dipingessero in tavole confitte su le porte di lor case." (Cronaca di Cambridge für die Jahre 845/6, zit in Varvaro 1981, 111)

Sodann zitiert Varvaro den Bericht eines Historikers aus dem Jahre 1949 über eine Prozession in Enna zur festa dell’Assunta(Maria Himmelfahrt), gefeiert am 2 Juni:

«il simulacro è [...] adorno di manipoli di grano e lo portano i membri d’una confraternita di agricoltori, scalzi e vestiti di bianco, seguiti da fanciulle parimenti vestite di bianco. Si distribuiscono ai portatori rustici dolci di farina e miele, e le fanciulle appendono ad esso, a gara, mazzolini di fiori che al termine della pompa ritirano e custodiscono. Fra le statue che seguono il simulacro, quella di S. Pasquale reca formaggini in forma di cavalucci e daini. In passato due grandi fiaccole di stoppa e pece seguivano la processione.» (Pace 1949, zit. in Varvaro 1981, 111)

Bemerkenswert ist dieser Bericht, weil:

"le vesti bianchi, i piedi scalzi, le fiaccole, i dolci di miele, le offerte di fiori sono tutti elementi della festività estiva in onore di Demetra, la cui figlia Persefone era stata rapita da Plutone proprio vicino ad Enna. In questo caso sembra esserci una continuità di tradizione nella stessa area geografica, ed il fatto non pare casuale." (zit. in Varvaro 1981, 111)

Es wurde also in Sizilien, speziell in Enna, ein  offenkundig vorchristlicher, griechischer Fruchtbarkeitskult zu Ehren der  Demeter (ihr entspricht die römische Göttin Ceres; Link) durch das Christentum assimiliert und über die islamische Epoche hinaus erhalten. Ähnlich ist im Übrigen der Brauch der so genannten  Adonisgärten (an Johannis und an Ostern) einzuschätzen, der in Sizilien und Kalabrien (auch Sardinien) praktiziert wird. Adonis wurde in der griechischen Antike ebenfalls, wie Demeter, als  Vegetationsgottheit verehrt (vgl. Frazer 1994, engl. Or. 1922, 500 ff., 524).  

2.3. Lexikalische Arabismen

Der arabische Sprachkontakt hat sich in einigen spezifisch sizilianischen Familiennamen niedergeschlagen, wie:

Wichtiger sind jedoch die zahlreichen, im engeren Sinn lexikalischen Entlehnungen; sie wurden von Trovato/Valenti in onomasiologische Bereiche eingeteilt, die einen weiten Horizont des öffentlichen und - vor allem - privaten Alltagslebens umfassen. Darunter sind wichtige Konzepte, die in der folgenden Tabelle exemplarisch genannt werden. Die massive Akkulturation der Romanen zeigt sich hier sehr deutlich:

Arabische Entlehnungen aus  onomasiologischer Sicht (in Auswahl nach Trovato/Valenti 2013, 39-46, wo sich auch die zugehörigen Bezeichnungen finden)
Sachbereiche Konzepte
Idraulica e coltivazioni REGENWASSERLACHE, QUELLE, FLUSSBECKEN, BRUNNEN, WASSERLEITUNG, WASSERLEITUNG AUS TERRACOTTA, WASSERGEFÄSS, WASSERSCHÖPFWERK, MASSEINHEIT FÜR WASSER
Piante, ortaggi, frutta PISTAZIE, SESAM,  ARTISCHOCKE, BLÜTE VON AGRUMEN, AUERGINE, JOHANNISBROTBAUM, APRIKOSE, AFFODILL (Link), FEIGE
Casa, costruzioni PLATTE, KUPPEL, STEINERNE BANK (AUSSEN), LAGERRAUM, MAUERNISCHE ZUR AUFBEWAHRUNG, ZELTDACH
Recipienti e utensili domestici KARAFFE, KORB, MATRAZE,  KRUG, TOTENBAHRE, HERD, PACKSATTEL
Mestieri e attributi di persona WEBER, WASSERVERKÄUFER, NARR, SENN, ANFÜHRER DER FISCHER
Cibi KICHERERBSEN, COUSCOUS, THUNFISCH, BROT, AUSGEBACKENES
Misure e monete  
Termini di marina e militari WERFT, SCIROCCO, LEICHTES BOOT, DECKAUFBAU, SCHLEPPNETZ
Panni e addobbi  
Commercio e dogana ZOLL, LAGERHAUS

Die zahlreichen, in der Mehrheit nur dialektalen Bezeichnungen müssen hier nicht aufgeführt werden; die Verbreitung einer kleinen Auswahl wurde von Ornella Cosenza in einer quantitativen Karte dargestellt; Link). Immerhin sollen exemplarisch zwei Vertreter der beiden ersten, wichtigsten Bereiche erwähnt werden.

Ein Beispiel aus der Domäne ‘piante, ortaggi, frutta’, nämlich siz.  żibbibbu ‘weiße Trauben; übereife Trauben’ (< arab. zabīb ‘überreife Weintraube’;  (vgl. VSES, 1212 f.) zeigt, dass auch unstrittige sizilianische  Arabismen über den Handel sehr weite Verbreitung finden konnten. Diese Trauben wurden früher als ROSINEN vermarktet, so dass die Bezeichnung als Zibebe ins (Süd)Deutsche entlehnt wurde; die Herkunft wird schon im DWB 2011 festgestellt (Link). 

Mit siz. nòria wird ein Wasserschöpfrad, also eine Einrichtung aus der Domäne ‘idraulica e coltivazioni’ bezeichnet, deren Mechanik etwa wie auf dem Photo funktioniert:   

Spanische noria in Algeciras (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Noriacristina.JPG

Der Antrieb erfolgt durch Pferde oder Esel (Link). Das Wort bietet sich an, um auf eine charakteristische Schwierigkeit bei der Erforschung der sizilianischen Arabismen aufmerksam zu machen, denn angesichts fehlender mittelalterlicher Belege könnte es gut sein, dass es erst mit dem Spanischen gekommen ist, wo das Wort einen eindeutigen Arabismus darstellt (vgl. span. noria < arab. nā’ūrah vgl. Real Academia Española 2017Link); in Sizilianischen müsste man also unmittelbar von einem Hispanismus und allenfalls mittelbar von einem Arabismus reden  (vgl. Caracausi 1983, 308). Weiter verbreitet als siz. nòria ist jedoch die synonyme Bezeichnung siz. sénia, die ebenfalls  aus dem Arab. (< arab. sāniya ‘Schöpfrad’) stammt und bereits vor der span. Zeit in siz. Dokumenten belegt ist (vgl. VSES, 964 f. und  Caracausi 1983, 340). Die Sache wurde also wohl mitsamt dieser Bezeichnung direkt in Sizilien von der Arabern übernommen; während der span. Herrschaft  kam über das Span. die zweite Bezeichnung (nòria) hinzu; womöglich stand sie ursprünglich für eine etwas andere Mechanik.

Die spanische Entsprechung von sénia lautet übrigens  aceña (ebenfalls < arab. sāniyah) und das Wortpaar macht auf einen nicht wirklich erklärten, recht systematischen Unterschied zwischen iberoromanischen und sizilianischen Arabismen aufmerksam, denn im Portugiesischen und Spanischen wurden die arabischen Nomina in der Regel (aber nicht immer, wie span. noria zeigt)  mit dem agglutinierten arabischen Artikel al- bzw. as-, ar- entlehnt.   

arabisch spanisch sizilianisch italienisch
(as-)sāniyah aceña sénia  
(al-)quṭún (el) algodón cuttuni cotone
(as-)sukkar (el) azúcar zùccuru zucchero
(al-)kharshūf (la) alcachofa cacòcciula carciofo
(al-)maṭráḥ (el) almadraque matarazzu (nach latinisierender Form mataracium) materasso
(al-)ma‘ṣára almazara ‚Ölmühle‘ màzzara ‚Gewicht zum Beschweren‘ u.ä. vgl. it. mazzerare
(al-)maẖzan almacén magasenu ‚Warenlager‘ magazzino (> frz. magasin), ?< arab.pl. makhāzin (Pl.)
(al-)ẖarrūbah (< Pers.) algarroba carrubba ‚Johannisbrot(baum)‘ carruba (< siz.)
(al-)qaṣr ‚Burg‘

< gr. kastron < lat. castrum

alcázar càssaru ‚corso, via principale‘  
za’faraūn azafran zafrano, zafarana zafferanno

Ein wenig aus der Reihe fällt das folgende Beispiel, da das Französische zwar eine span. Form mit  Artikel voraussetzt (blau markiert), das spanische Standardwort sich jedoch wie das Siz. verhält und gerade keinen Artikel zeigt. 

arabisch spanisch französisch sizilianisch   italienisch
(al-)bāḏinǧānah berenjena aubergine milinciana (x mela)   melanzana

2.4. Morphosyntaktische Arabismen?

Weitaus problematischer ist der Versuch morphosyntaktische Merkmale des Sizilianischen mit dem Arabischen in Verbindung zu bringen, denn es handelt sich dabei oft um nicht exklusive, sondern durchaus weit verbreitete Erscheinungen, die auch polygenetisch erklärt werden können. Aber selbst, wenn ihre Entstehung aus dem Sprachkontakt deshalb nicht im strengen Sinn nachgewiesen werden kann, mögen Kontaktsprachen ihre Frequenz und Produktivität verstärken. Yakov Malkiel hat dafür einen französischen Ausdruck geprägt; er spricht vom „appui preté par contact dans une ambiance de bilinguisme“ (Malkiel 1974, 41).

Diesen Terminus hat Sgroi als sostegno ins Italienische übertragen:

 [...] l’influenza araba sul costrutto siciliano  può essere sostenuta qui, se non come causa prima, certamente come causa che ne ha indirettamente determinato e rafforzato la particolare vitalità e frequenza. (Sgroi 1986, 27)

Als Kandidaten für eine solche kontaktsprachlich gestützte Funktions- und Frequenzausweitung werden unter anderem die beiden folgenden, bemerkenswerten Phänomene diskutiert.

2.4.1. Die ‘inverse’ Anrede 

Mit dem nicht selbsterklärenden Ausdruck ‘allocuzione inversa’ wird eine spezielle, meist mit einer Aufforderung oder einem Ratschlag verbundene Anrede bezeichnet, die damit endet, dass der Sprecher sich selbst nennt. Im Sizilianischen wird der eigene Name dabei stets durch den definiten Artikel eingeführt. Hier zwei Beispiele >(aus Sgroi 1986, 23 ff.):

  • veni ccà a mamma tua (Dialekt von Trapani), wörtlich: ‘Vieni qua, la tua mamma / Komm her, die/deine Mutter’;
  • veni ccà u papà tò (Dialekt von Sciacca [AG]).

Die Konstruktion ist auf spezifische Kontexte beschränkt; sie wird z.B. häufig von älteren, vertrauten Personen im Umgang mit Kindern  verwandt. Gegen eine Entlehnung aus dem Arabischen spricht ihre weitere Verbreitung in Süditalien und vor allem auch im Rumänischen (vgl. Renzi 1968 und Sgroi 1986).

2.4.2. Reduplikation in Syntax und Wortbildung

Die Wiederholung, oder: Reduplikation, eines sprachlichen Elements ist zweifellos ein ganz elementares und universales syntagmatisches Verfahren, dass mehr oder weniger sporadisch mindestens in Form von Phraseologismen in jeder Sprache vorkommen mag. Allerdings scheint es schon im Standarditalienischen in bestimmten Funktionen regelhaft verwandt zu werden:

  • vorrei un caffè caffè ‘bitte einen starken Kaffee (der den Namen verdient)’,
  • non è proprio italiano italiano ‘so richtig italienisch ist er/sie/es nicht’.

Diese Reduplikationen haben vor allem, wenn nicht ausschließlich semantische Funktion, denn sie drücken eine Intensivierung oder Steigerung aus. Im Sizilianischen ist diese Konstruktion besonders häufig, wie Alfonso Leone feststellt:  

[...] l’iterazione o replicazione nominale che, anche se non ignota altrove (e persino in lingua: per es. Camminare riva riva) è comunque in Sicilia largamente attestata, al punto da farmi pensare a una sua origine siciliana. (Leone 1995, 32)

Wie scheint, können alle Wortarten redupliziert werden (Beispiel aus Sgroi 1986, Anm. 21 und Leone 1995, 32 f.):

Adjektiv | Adjektiv pisci vivi vivi ‘quicklebendige Fische’
stu cappuottu è tuttu purtusa purtusa ‘dieser Mantel ist ganz löcherig’
Nomen | Nomen schirzannu schirzannu ‘unter ständigem Scherzen’
Verb | Verb cu veni veni ‘wer auch immer kommt’

Leone sieht auch vor allem die semantische Funktion der Konstruktion: 

[...] si lega solitamente a una sfumatura semantica di continuità sia nel tempo («si ni vinni acqua acqua», ossia persistendo la pioggia) sia nello spazio («Camminari muru muru», sempre rasente il muro, senza mai scostarsene). (Leone 1995, 32)

Allerdings zeigen schon die beiden eben genannten Beispiele, dass es sich in syntaktischer Hinsicht um ganz unterschiedliche Verfahren handelt. Im Fall von

  • si ni vinni acqua acqua ‘es kam Wasser, Wasser’, also im Sinne von ‘es wollte gar nicht mehr aufhören zu regnen’ 

hat die Verdopplung in der Tat keine syntaktische Auswirkungen, denn das (einzige) Argument des Verbs wird zwar verdoppelt, behält jedoch seine Funktion als Subjekt. Im zweiten wird dagegen auch ein Nomen verdoppelt,

  • camminari muru muru ‘immer eng an der Wand entlang gehen’,

aber das Nomen besetzt keine Argumentstelle, sondern hat die Funktion eines Abverbials. Ein einfaches Nomen ist in dieser Position/Funktion unmöglich:

  • *camminari muru.

Die Reduplikation erlaubt - mit anderen Worten - die adverbiale Verwendung eines Nomens und darf daher als genuin syntaktisches Verfahren angesehen werden, das vor allem zur Bildung lokaler Adverbiale durchaus produktiv zu sein scheint (vgl. Krefeld 2011d). Hier einige Beispiele aus dem Dialekt von Floridia:

  • essiri/iucari pidi pidi (Dialekt von Enna) bzw.  p(i)eri p(i)eri, ‘giocare /essere in giro (lett. a piedi)’;
  • u jattu camina tetta tetta (Dialekt von Floridia) ‘il gatto cammina da un tetto all'altro/tra i tetti’;
  • i chiavi t’hanu cadutu campi campi (Dialekt von Enna) ‘le chiavi ti saranno cadute sui campi’.

Schließlich sind Reduplikationen außerordentlich produktiv in der Bildung von verkürzten Kosenamen, wie die folgende Liste zeigt, die Leonardo Sciascia, teil auf der Grundlage der Novellen von Pirandello zusammengestellt hat.  

Reduplizierende Kosenamen (Liste (aus Sciascia 1984, 120 f.))
Bebè = Benedetto
Cacà = Carmelo
Cecè = Cesare
Ciccí = Francesco
Cocò = Nicola/Nicolò
Dedè  = Diego, Adele
Dodo = Dora, Dorotea
Fefè = Ferdinando
Fifí = Felice, Filomena
Fofò = Alfonso
Gegè = Genoveffa, Eugenio
Gigì = Luigi, Eugidio
Giugiú = Gerlando, Giovanni
Lillí = Calogero
Sisí = Isidoro
Stestè = Stefano
Tatà = Gaetano, Gaetana - Tití = Concetta
Lollò = Calogero
Lulú = Luigi
Mimí =  Domenico, Girolamo
Nanà = Leonardo, Ferdinando
Nenè = Emanuele, Nicolò
Niní =Antonino
Nonò = Onofrio
Nunú = Eleonora
Pepé = Giuseppe
Popò = Leopoldo
Rirí = Edoardo
Rorò = Rosa, Rosalia
Rurú = Rosalia
Sasà = Rosario, Santo, Serafino
Totò = Salvatore, Antonio
Vevè = Venere, Venerina, Veronica
Viví = Vincenzo, Vincenza

Ob analoge Reduplikationen im Arabischen wirklich eine ähnliche Funktionsbreite und Produktivität haben bedarf der empirischen Absicherung. In jedem Fall kann man jedoch festhalten, dass mit den Reduplikationen die einfachst mögliche Technik zur Produktion syntagmatischer Strukturen, nämlich die schlichte Wiederholung ein und desselben sprachlichen Zeichens stark ausgebaut wurde; gleichzeitig handelt es sich um ein semantisch unterspezifiziertes Verfahren, da die jeweilige Bedeutung sich erst im Kontext der Reduplikation ergibt. Es ist naheliegend, darin den Reflex eines weit verbreiteten Bilinguismus mit zahlreichen L2-Sprechern zu sehen, denn einfache Konstruktion werden in frühen Erwerbsphasen gelernt.    

Bibliographie

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  • Varvaro 1981 = Varvaro, Alberto (1981): Lingua e storia in Sicilia, Palermo, Sellerio.
  • VSES = Varvaro, Alberto (2014): Vocabolario storico-etimologico del Siciliano, vol. 2, Palermo/Strasbourg, Centro di Studi Filologici e Linguistici Siciliani, Ed. de Linguistique et de Philologie.
Diese arabische Wort steckt auch in Gibraltar < ǧebel Tariq ‘Berg des Tarik’.
Für Hinweise danke ich Roberto Sottile, Palermo.
Auch für den Hinweis zu paretymologischem donna und sekundärem femmina danke ich Roberto Sottile, Palermo.
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