1. Graffiti aus kommunikationsräumlicher Sicht
Hinweis: Alle Abbildungen von Graffiti, deren Quelle nicht speziell ausgewiesen ist, stammen aus der unveröffentlichten Magisterarbeit von Katharina Müller 2006.
1.1. Auftakt - aus aktuellem Anlass
Von Banksy, dem aktuell bekanntesten und wichtigsten Vertreter der street art, ist vor kurzem in London ein Graffito angebracht worden, das Aufsehen erregt hat:
nicht zuletzt auch deshalb, weil in das Graffito ein QR-Code integriert ist.
Im selben Zusammenhang sind vier andere Graffiti deselben Künstlers in Calais zu sehen.
1.2. Das 'klassische' Kommunikationsmodell
Die sprachliche Gestaltung des öffentlichen Raums und damit das 'linguistic landscaping' erfolgt in allererster Linie im medialen Modus der Schriftlichkeit. (Mündlichkeit ist auf spezifische Nischen, vor allem Ansprachen und Durchsagen, beschränkt.)
Für die Funktionsbestimmung dieser ‘Schriftlichkeit im öffentlichen Raum’ (ita. scrittura esposta) liefert das 'klassische' Modell der sprachlichen Kommunikation von Roman Jakobson, eine nützliche Grundlage. Dort werden die folgenden "konstitutiven Faktoren [eines] jede[n] verbalen Kommunikationsakt[s]" unterschieden:
In der Ursituation der Sprechens kommunizieren SENDER und EMPFÄNGER in einem KONTEXT, den man als face to face beschreiben kann, und in Hörweite, so dass der Kontakt akustisch realisiert wird. Nur unter diesen Bedingungen ist Kommunikation ohne den Einsatz zusätzlicher Medien überhaupt möglich. Alle andere Kommunikation ist auf sehr unterschiedliche Arten von Medien angewiesen.
2. Mediale Kommunikationsformen im öffentlichen Raum
Im öffentlichen Raum wird die Kommunikation weithin durch offizielle Institutionen und mehr oder weniger feste private Einrichtungen getragen. Unabhängig davon gibt es aber auch private Kommunikationsformen, die im Folgenden auf der Grundlage des Modells von Roman Jakobson skizziert werden.
2.1. Graffiti
2.1.1. SENDER und EMPFÄNGER
Unterschiedliche Konstellationen sind verbreitet:
- anonymer Sender und anonymes, tendenziell großes Publikum;
- verdeckt individualisierter Sender, der sich durch einen 'Tag' oder auch nur durch seinen Stil einem Insider-Publikum zu erkennen gibt; die in diesem Kreis kommunizierten Botschaften können mehr oder weniger verschlüsselt sein, sind aber für ein anonymes, tendenziell großes Publikum sichtbar;
- offen individualisierter Sender, der sich an einen ebenfalls offen individualisierten Empfänger wendet, aber ein tendenziell großes und anonymes Publikum in Kauf nimmt sichtbar oder zur Bekräftigung der Botschaft strategisch einplant;
- offen individualisierter Sender und anonymes, tendenziell großes Publikum (vgl. Banksy).
Graffiti leisten in der Regel, wenn nicht grundsätzlich, keine face to face-Kommunikation; sie sind also medial basiert. Es ist jedoch unbestreitbar, dass sie reale Kommunikation aufbauen, wie das folgende Photo exemplarisch zeigt:
Banksy knightsbridge Passanten
Die Passanten sehen das Graffito, und verbreiten mit ihren Smartphones sofort Kommentare und/oder Photos, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit an Dritte weiterverbreitet werden usw.
Eine direkte Kommunikation entwickelt sich oft durch schriftliche Kommentierung eines Graffito durch andere, d.h. durch EMPFÄNGER. Hier zwei Beispiele:
La Mortadella è buona!
E TU SEI STRONZO
Cioè è positiva ok?
2.1.2. KODE
Graffiti werden visuell wahrgenommen; sie setzen in unterschiedlicher Funktionalisierung und in unterschiedlichen Anteilen Schrift und nicht schriftbasierte, graphische Verfahren ein (inklusive digitaler Codes; vgl. den QR-Code bei Banksy).
Text;
USATO POCO / PRATICAMENTE / NUOVO / VENDO CAUSA / MANCATO UTILIZZO
2.1.3. KONTEXT und KONTAKT
Je nach Konkretisierung der Instanzen lassen sich nun unterschiedliche Formen von Graffiti bestimmen. Konstitutiv für alle ist jedoch die Instanz KONTEXT, denn sie werden grundsätzlich im öffentlichen Raum angebracht. Damit sind Graffiti der prototypischen, gerade ortsungebundenen Schriftlichkeit fremd. Sie rücken jedoch in die Nähe von Schildern und vor allem von Inschriften.
Die Ortsgebundenheit ist für Graffiti substantiell; der KONTAKT ist an ihren Standort gebunden; daher kann diese Instanz nicht vom KONTEXT getrennt werden. Der örtliche Kontext nimmt in mancherlei Hinsicht Einfluss auf die spezifische Art der Graffiti Kommunikation.
- Graffitis sind in der Regel subversiv, da der Ort nicht als Träger für private Botschaften genützt werden darf. Das Anbringen ist also ein Vergehen gegen das Eigentumsrecht und vielleicht noch gegen andere gesetzliche Vorschriften oder Verortungen ('Sachbeschädigung'). Der Autor gibt zu erkennen, dass er präsent war und eine gewisse semiotische Kontrolle ausübt:
Damit geht oft ein Anspruch auf politische und soziale Kontrolle einher; prototypisch ist:
Ähnlich funktioniert:
Es liegt daher nahe, die Aneignung der Schreibfläche explizit als symbolische Vorwegnahme einer politischen Inbesitznahme zu vermitteln, wie in folgendem Beispiel:
- Graffiti sind notwendig lokaldeiktisch; bisweilen auch in der MITTEILUNG mehr oder weniger explizite Anspielungen auf den lokalen KONTEXT (vgl. Banksy in Opposite French Embassy) oder neuerdings medial vermittelte deiktische Verbindung zu anderen Orten, die für die Botschaft relevant sind (vgl. Banksy QR-Code),
2.1.4. MITTEILUNG
Grundsätzlich kann alles Mögliche kommuniziert werden; es dominieren intime und politische Inhalte. Hier eine alternative und offenkundig dialogische, von zwei Autoren stammende Gegenüberstellung zweier Positionen:
Bisweilen gibt es aber auch durchaus Texte, in denen sich literarische Qualitäten entdecken lassen und die vielleicht von ihren Autoren auch so intendiert waren:
Ideal wäre eine georeferenzierte Darstellung aller Abbildung auf einem virtuellen Stadtplan von Bologna (GoogleEarth, OpenStreetMaps o.ä.), um ihre Verteilung im städtischen Raum zu dokumentieren; eine entsprechende Dissertation wird von Sebastian Lasch (in Vorbereitung) zu Rom vorbereitet.
2.2. Stolpersteine
Ein historischer, aber keineswegs subversiv, sondern im Sinne des kollektives Gedächtnisses entworfener Beitrag zur Gestaltung des öffentlichen Kommunikationsraums sind die so genannten 'Stolpersteine', die von Günther Demnig konzipiert und realisiert wurden. Dadurch werden vor ihren ehemaligen Wohnhäusern individualisierte Erinnerungen an Opfer des Nationalsozialismus angebracht. Das Projekt ist europäisch angelegt und wird zunehmend auch in Italien umgesetzt.
Eine sehr gelungene virtuelle Umsetzung ist das Münchner Projekt Memory Loops.
Bibliographie
- Jakobson 1960b = Jakobson, Roman (1960): Grundlagen der Sprache, in: Schriften zur Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung, vol. Nr. 1, Berlin, Akademie-Verlag.
- Lasch (in Vorbereitung) = Lasch, Sebastian (2022): Scritte Murali – Multimodale Analyse der Kommunikationsstrategien am Beispiel des urbanen Raum Roms, München, LMU (Link).
- Müller 2006 = Müller, Katharina (2006): "Perché siamo qua?" - Eine linguistische Betrachtung der Graffiti in Bologna (unveröff. Magister-Arbeit), München, LMU.