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Morphologische Kategorien in der Sprecherwahrnehmung

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Zitation: Thomas Krefeld (2019): Morphologische Kategorien in der Sprecherwahrnehmung. Version 1 (06.09.2019, 08:56). Lehre in den Digital Humanities. , url: https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=145502&v=1



Die perzeptive Linguistik muss eine doppelte Herausforderung bewältigen, denn ihr Gegenstand - die Sprache - ist einerseits in der Wahrnehmung der außersprachlichen Welt verankert und andererseits selbst Gegenstand der Wahrnehmung. Die Notwendigkeit beide Perspektiven miteinander zu verknüpfen  wird speziell in der Morphologie sehr deutlich. Denn die Existenz der grammatischen Kategorien sowie die semantischen Kategorien der Alteration (Diminution, Augmentation) sind eindeutig abhängig von der Perzeption der Welt (); die Organisationsprinzipien der Paradigmen führen dagegen zur Perzeption der sprachlichen Formen. 

Sprecherbewusstsein
|
Perzeption
↙                     ↘
     außersprachliche Welt                                  einzelsprachliche Formen

Abb. 1: Die beiden Perspektiven der perzeptiven Linguistik

Die Perzeption der außersprachlichen Welt darf in Zusammenhang mit einer möglichen Motivation sprachlicher Kategorien gebracht werden und aus der Perzeption einzelsprachlicher Formen darf man Einsichten in die Prozesse des formalen Wandels erwarten. 

1. Maximal natürliche Morphologie

Wegen der besonderen semantischen Komplexität und formalen Vielfalt eignet sich im lateinisch-romanischen Kontinuum insbesondere die Verbalmorphologie für  perzeptiv pointierte Überlegungen, wie sie durch die Natürlichkeitstheorie aufgebracht wurden.

1.1. Verbalflexion (Konjugation)

Aus natürlichkeitstheoretischer Sicht im Sinne von Mayerthaler 1981 ist der konstruktionelle Ikonismus die Grundlage für eine optimale Kodierung (oder: Symbolisierung) von Flexion. Sie ist aber erst dann gegeben, wenn ein Paradigma noch zwei weitere Bedingungen erfüllt, nämlich die Uniformität und die Transparenz.

1.1.1. Uniformität

Dieses Prinzip beschreibt die semantische Eindeutigkeit der Formen eines Paradigmas und schließt Polysemie aus: 

Die Symbolisierung/Enkodierung eines Paradigmas Pi ist uniform wenn Pi, gemäß ‘one-function-one form’ organisiert ist, anderenfalls mehr oder weniger nicht-uniform. (Mayerthaler 1981, 34)

Gemessen an diesem Kriterium ist die ital. Konjugation der drei Klassen auf -are/-ere/-ire im Präsens vollkommen uniform, da alle Formen der sechs Personen () eindeutig kodiert sind.

1.1.2. Transparenz

Dieses Prinzip bezieht sich auf die Analysierbarkeit der Formen eines Paradigmas, d.h. auf die klare Trennbarkeit der lexematischen von der grammatischen Information.

Ein Paradigma Pi ist transparent, wenn es sich durch monofunktionale Operationen konstituiert, bzw. nur monofunktionale Flexive/Derivative aufweist. (Mayerthaler 1981, 35)

Das genannte Beispiel der ital. Konjugationsklassen im Präsens erfüllt auch dieses Kriterium und ist vollkommen transparent. Hier der Überblick:

  Präsens lavor-are vend-ere dorm-ire  
Person 1.  -o ein-
silbig

2. -i 
3. -a -e
4. -iamo zwei-silbig

5. -ate -ete -ite
6. -ano -ono
Abb. 2: Natürlichkeit und konstruktioneller Ikonismus bei der Kodierung der Person im Italienischen

Von der eindeutigen und merkmalhaltigen Kennzeichnung jeder einzelnen Person abgesehen, ergibt sich ein konstruktioneller Ikonismus im Hinblick auf die einsilbigen Morpheme der drei singularischen Personen mit einfacher Semantik und der zweisilbigen Kodierung der drei pluralischen Personen mit komplexerer Semantik.

Man beachte, dass diese konsequente ikonische Unterscheidung der singularischen Personen 1, 2, 3 von den pluralischen Personen 4, 5, 6 ein Produkt der romanischen Sprachgeschichte ist, denn das klassische Latein verhält sich im Hinblick auf die 6. Person noch anders:

  Präsens italienisch
lavor-are
lateinisch
labor-are
 
Person 1.  -o -o Plural

2. -i  -as
3. -a -at
4. -iamo -amus Singular

5. -ate -atis
6. -ano -ant
Abb. 2: Natürlichkeit und konstruktioneller Ikonismus bei der Kodierung der Person im Italienischen und Lateinischen
    zweisilbig einsilbig  

Zwar fällt damit nur eine einzige Form aus dem Rahmen (die einsilbige Pluralendung -ant), allerdings liegt ausgerechnet der semantische Unterschied zwischen der 3. und 6. Person ganz eindeutig in der Pluralität. Immerhin ist die lateinische Endung der 6. Person auf segmentaler Ebene minimal länger als die der 3. Person (lat. -nt vs. -t).  

“La distinction ordinaire de singulier et de pluriel doit être sinon remplacée, au moins interprétée dans l’ordre de la personne, par une distinction entre personne stricte (= «singulier») et personne amplifiée (= «pluriel»). Seule la «troisième personne», étant non-personne, admet un véritable pluriel.” (Benveniste 1966 [1946], 235f.)

Die gewöhnliche Unterscheidung von Singular und Plural muss ersetzt oder wenigstens im Verständnis von Person interpretiert werden als Unterscheidung zwischen Person im engeren Sinn (= 'Singular') und Person im weiteren Sinne (= 'Plural'). Nur die 'dritte Person', als Nicht-Person, lässt einen echten Plural zu.' (Übers. Th.K.)

1.1.3. Formale Unregelmäßigkeiten und Frequenzeffekte    

Allerdings gibt es auch einige, wenn auch nicht sehr viel Verben, die diesem Schema nicht folgen und deshalb als unregelmäßig bezeichnet werden, so avere ‘haben’ und essere ‘sein’, die beide auch als Auxiliare für die Bildung anderer Tempora (Perfekt, Plusquamperfekt) und andere Diathesen (Passiv, Reflexiv) sind. 

  lavorare ‘arbeiten’ avere ‘haben’  essere ‘sein’
  lavoro ho sono
  lavori hai sei
  lavora ha è
  lavoriamo abbiamo siamo
  lavorate avete siete
  lavorano hanno sono
uniform + + -
transparent + - -
Formtyp 1: transparent, monofunktional  
Formtyp 2: nicht transparent
Formtyp 3: nicht monofunktional (= polysem)
Abb. 3: Regelmäßige und unregelmäßige Konjugationsparadigmen 

Auch hier ist ein diachronischer Blick ins Lateinische aufschlussreich. Die folgende Abbildung zeigt, dass lat. habere im Unterschied zu ita. avere ganz regelmäßig konjugiert wird:

  lateinisch italienisch
  habere ‘haben’ avere ‘haben’ 
  habeo ho
  habes hai
  habet ha
  habemus abbiamo
  habetis avete
  habent hanno
uniform + +
transparent + -
Formtyp 1: transparent, monofunktional  
Formtyp 2: nicht transparent
Abb. 4: Regelmäßiges lat. habere -
unregelmäßiges ita. avere

Die Entstehung der Unregelmäßigkeit mag nun damit in Verbindung stehen, dass ita. avere - ganz im Unterschied zu lat. habere - auch als Auxiliar verwandt wird und deshalb eine zweifellos sehr viel höhere Frequenz hat, als dies im Lateinischen der Fall war. Die grammatischen Funktionen sind also der Grund für die erheblichen Frequenzunterschiede zwischen avere/essere auf der einen Seite und auf der anderen Seite solchen Verben, die nicht, oder wenigstens nicht so eindeutig grammatische Funktionen haben. Es liegt daher nahe hinter der Unregelmäßigkeit weniger, aber  hochfrequenter Paradigmen  einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen den beiden Parametern ‘Frequenz’ und ‘(Un-)Regelmäßigkeit’ zu vermuten. Die Hypothese lautet:

  • Je häufiger eine Form gebraucht wird, desto anfälliger ist sie für Veränderung und mittelbar für die Erzeugung von paradigmatischer Unregelmäßigkeit.

Das Korpus des Lessico di frequenza dell’italiano parlato (De Mauro u.a. 1993), das über die BADIP abrufbar ist, liefert dazu eindeutige Ergebnisse (s.u.). Es ist ferner keineswegs zufällig, dass sich die in Abbildung 3 rosa unterlegten unregelmäßige Formen auch durch besondere Kürze auszeichnen; manche bestehen ja nur aus einem einzigen Phonem:

  • ho /ɔ/, ha /a/, è /ɛ/.

Schon lange vor der Entstehung der Korpuslinguistik erkannte George Kingley Zipf (1932) in übereinzelsprachlicher und synchronischer Perspektive, dass ein Wort umso kürzer ist, je häufiger es gebraucht wird. Dieser Zusammenhang besteht aber genauer gesagt nicht nur zwischen ganzen Verbparadigmen, sondern zwischen den einzelnen Formen innerhalb ein und desselben Paradigmas. Einen kleinen Eindruck gibt die folgenden Tabelle auf der Datengrundlage der BADIP1. Die erste, als Lemma titulierte Zeile zeigt hinter der Infinitivform die absoluten Okkurrenzen sämtlicher Formen des Verbs, symbolisiert durch das mathematische Summenzeichen Σ . Die folgenden Zeilen nennen die Vorkommenshäufigkeit der jeweiligen Einzelfomen.

Lemma Σ lavorare 248 Σ  avere 3226 Σ  essere 15679
Infinitiv lavorare 104 avere 299 essere 597
1.-6. Person Präsens lavoro 8 (=3.) ho 339 (=3.) sono 2308 (=2.)
lavori 3 (=6.) hai 101 (=6.) sei 248 (=5.)
lavora 38 (=1.) ha 662 (=1.) è 9981 (=1.)
lavoriamo 5 (=4.) abbiamo 438 (=2.) siamo 355 (=4.)
lavorate 4 (=5.) avete 104 (=5.) siete 91 (=6.)
lavorano 17 (=2.) hanno 327 (=4.) sono 2308 (=2.)
uniform +   +   -  
transparent +   -   -  
Formtyp 1: transparent, monofunktional

Anzahl Tokens total: 489178

in Klammern: Ranking der Frequenz im Einzelparadigma 

Formtyp 2: nicht transparent
Formtyp 3: nicht monofunktional (= polysem)
Abb. 5: Frequenz und Uniformität/Transparenz (Quelle: (BADIP)

Zur solideren Absicherung folgen entsprechende Frequenzwerte einiger anderer Verben: 

∑ fare 5751 ∑ stare 1900 ∑ andare  3871
fare 1152 stare 100 andare 347
faccio 339 (2.) sto 274 (2.) vado 170 (3.)
fai 227 (5) stai 170 (3) vai 179 (2.)
fa 742 (1.) sta 629 (1.) va 2156 (1.)
facciamo 261 (4.) stiamo 158 (4.) andiamo 155 (4.)
fate 94 (6.) state 28 (5.) andate 40 (6.)
fanno 282 (3.) stanno 13 (6.) vanno 148 (5.)
Abb. 6: Frequenz der Personalformen im Präsens von drei unregelmäigen Verben (Quelle: (BADIP)

Zwar ergibt sich kein ganz gesetzmäßiger Zusammenhang, aber folgende Feststellungen lasssen sich ganz unmittelbar ableiten:

  • In allen Paradigmen ist die Form der dritten Person mit Abstand diejenige mit der höchsten Frequenz.
  • Der jeweilige Rang der anderen Personen hängt wohl von der Semantik und (grammatischen sowie phraseologischen) Funktion des jeweiligen Verbs ab; so ist der 2. Rang von vai sicherlich im Zusammenhang mit der partikelhaften Verwendung der Form zu sehen. Eine Affinität vom 2. und 3. Rang zur ersten und zweiten Person deutet sich jedoch an. 
  • Falls ein unregelmäßiges Paradigma minimale Formen aus nur einem Phonem aufweist, wie z.B. ha /a/, oder aber nicht transparente Formen, die sich nicht in Flexionsmorphem und Stamm segmentieren lassen, wie z.B. va und fa, gehören die Formen der 3. Person dazu.
  • Falls es andere minimale Formen gibt, wie z.B. ho [ɔ] handelt es sich ebenfalls um frequentere Formen (Rang 3).
  • Falls es nicht-monofunktionale (polyseme) Formen gibt, wie sono, werden damit frequente Personen des jeweiligen Verbs bezeichnet (Rang 2). 

1.1.4. TEMPORA

Ganz ähnliche Zusammenhänge zwischen Regelmäßigkeit und Frequenz ergeben sich im Hinblick die unterschiedlichen Tempora. So stehen im Fall von avere und essere den unregelmäßigen Präsensparadigmen ganz regelmäßig Futur- und Imperfekt-Paradigmen gegenüber. Die Gebrauchsfrequenz diese beiden Tempora liegt sehr deutlich unter derjenigen des Präsens. sind sehr viel seltenere  vollkommen regelmäßige Futu bilden die beiden unregelmäßigen 

Lemma avere essere
Infinitiv Präsens Futur Imperfekt Präsens Futur Imperfekt
1.-6. Person Präsens ho 339 (=3.) avrò 11 (=5.)

avevo 74(=2)

sono 2308 (=2.) sarò 9 (=4) ero 68 (=3.)
hai 101 (=6.) avrai 7 (=6.) avevi 12 (=5.) sei 248 (=5.) sarai 4 (=5.) eri 13 (=5.)
ha 662 (=1.) avrà 45 (=1.) aveva 160 (=1.) è 9981 (=1.) sarà 253 (=1.) era 1047 (=1.)
abbiamo 438 (=2.) avremo 29 (=2.) avevamo 29 (=4.) siamo 355 (=4.) saremo 11 (=3.) eravamo 25 (=4.)
avete 104 (=5.) avrete 27 (=3.) avevate 2 (=6.) siete 91 (=6.)

sarete 1 (=6.)

eravate 4 (=6.)

hanno 327 (=4.) avranno 22 (=4.) avevano 57 (=3.) sono 2308 (=2.) saranno 55 (=2.) erano 232 (=2.)
uniform +   + + -   + +
transparent -   + + -   + +
Formtyp 1: transparent, monofunktional

Anzahl Tokens total: 489178

in Klammern: Ranking der Frequenz im Einzelparadigma 

 

 

Formtyp 2: nicht transparent
Formtyp 3: nicht monofunktional (= polysem)
Abb. 7: Frequenz und Uniformität/Transparenz (Quelle: (BADIP)

1.2. Suppletion

Ein weiterer Aspekt paradigmatischer Unregelmäßigkeit, die sogenannte Suppletion, wurde bislang noch nicht explizit angesprochen. Damit werden Paradigmen bezeichnet, in den unterschiedliche lexikalische Wurzeln nebeneinander stehen; so wirken im im Fall von ita. andare ‘gehen’ die Wurzeln and- und vad- zusammen (vgl. Abb. 6). Auch die Distribution solcher Wurzeln unterliegt diachronischen Veränderungen.

1.3. Essere im Standarditalienischen2

In den Paradigmen von lat. esse ‘sein’ finden sich (u.a.) eine sigmatische Wurzel mit initialem s- und eine nicht-sigmatische Wurzel mit initialem e-. Beide Wurzeln haben sich im Italienischen erhalten, allerdings hat sich des sigmatische Typ auf Kosten des anderen Typs ausgeweitet:

   lateinisch italienisch
  esse ‘sein’ essere ‘sein’
  sum sono
  es sei
  est è
  sumus siamo
  estis siete
  sunt sono
Wurzel mit initialem e-  
Wurzel mit initialem s-
Abb. 8: Suppletion im Präsens von lat. esse und ital. essere 

Es hat sich also ein weitgehender Stammausgleich vollzogen, durch den die deiktisch besondere 3. Person (die Nicht-Person)  formal isoliert wurde.

1.3.1. Essere in der Italoromania

vor dem Hintergrund der nicht überwältigenden aber doch recht guten Datenlage kann man nun eine weitere Frequenzuntersuchung anstellen, die nicht auf einzelne Formen in einzelnen Paradigmen sondern auf den Vergleich kompletter Paradigmen stützt und nach der Häufigkeit. Eine brauchbare Datenbasis liefern die Flexionsparadigmen des italienischen Sprachatlas (vgl. AIS, 1689 und hier speziell die Daten zu essere (NavigAIS, 1689; ). Ein interessantes Vergleichskriterium sind diepolysemen Formen, die in der Morphologie auch als Synkretismen bezeichnet werden. Im standarditalienischen Präsensparadigma ist das die Form sono, die sowohl die 1. Person Singular als auch die 3. Person Plural bezeichnet.

In den Dialekten finden sich 14 unterschiedliche synkretistische Konstellationen, die allerdings sehr unterschiedlich häufig auftreten. In der Darstellung steht die Ziffer 1 jeweils für Personen, die mit einer identischen Form bezeichnet werden. Wie man sieht gibt es auch einige Paradigmen, in denen einer Form drei Funktion zugeordnet sind:

Synkretismen in den dialektalen Paradigmen von essere; auf der Basis von AIS 1689

Quantitativ relevant sind die Typen A, B und C, von denen der häufigste (001001) mit 77 Paradigmen und der dritthäufigste (010010) mit 23 Paradigmen semantisch, pragmatisch, und perzeptiv  durchaus motiviert erscheint:

  • Typ A kodiert die grundlegende Opposition zwischen PERSON und NICHT-PERSON im Sinne von Benveniste 1966 und repäsentiert damit gleichzeitig die mit großem Abstand frequenteste Einzelform der jeweiligen Paradigmen.
  • Typ C kodiert die pragmatisch zentrale Kategorie des ANGESPROCHENEN mit (3. und 5 Person) mit einer Identischen Form.

Eine Motivation des zweithäufigsten Typs B (47 Paradigmen), der auch im Standarditalienischen gilt, ist jedoch nicht auszumachen; denn zwischen der 1. Person Singular, die für die Sprecher-Origo steht, und der 6. Person, der einzigen echten Pluralkategorie und zudem einer Nicht-Person gibt es weder semantische noch pragmatische oder frequenzbasierte Gemeinsamkeiten.

1.3.2. Zusammenwirken von drei Variablen des paradigmatischen Wandels

Abschließend sollen drei diskutierten Variablen ,

  1. die Entwicklung einer synkretistischen Form;
  2. den Wechsel der Wurzel vom sigmatischen zum nicht-sigmatischen Typ (oder umgekehrt);
  3. die Veränderung der Silbenzahl;

synoptisch darstellt werden. Die Graphik zeigt die historische Dynamik der sechs Personalformen in den dialektalen Präsensparadigmen von essere, die in AIS 1689 dokumentiert sind. Es wurde ausgewertet, inwieweit sich eine Form in Bezug auf die drei Parameter, von ihrer klassisch-lateinischen Entsprechung weg entwickelt hat. Die Vorgehensweise lässt sich am Beispiel des standarditalienischen Paradigmas illustrieren: 

  Synkretismus veränderte Silbenzahl Wechsel zum/vom
sigmatischen Anlaut
ita. sono (lat. sum) + +  
ita. sei (lat. es)     +
ita. è (lat. est)      
ita. siamo (lat. sumus)      
ita. siete (lat. estis)     +
ita. sono (lat. sunt) +    

In diesem Paradigma hat die 1. Person gemessen an den drei Variablen die stärkste Veränderung erfahren.

In der synoptischen und quantitativen Zusammenschau ergibt sin nun das folgende Bild:

Synopse

Offenkundig ist die Kodierung der ANGEREDETEN PERSON (2., 5. Person) besonders anfällig für paradigmatischen Ausgleich, genauer gesagt für die Übernahme des sigmatischen Anlauts von der 1. Person (SPRECHER); d.h. die Veränderung vollzieht sich inner halb der Kategorie PERSON im Sinn von Benveniste. Besonders anfällig für synkretistische Entwicklung ist im Gegensatz dazu die Kodierung der NICHT-PERSON, d.h. die 3. und 6. Person. Weiterhin wird deutlich, dass im Fall dieses höchstfrequenten Verbs essere der konstruktionelle Ikonismus mit zweisilbigen Formen in den pluralischen Personen nicht sehr stark ist (Tendenz der 4. und 5. Person zur Einsilbigkeit).

 

Bibliographie

  • AIS = Jaberg, Karl / Jud, Jakob (1928-1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, vol. 8, Zofingen (Link).
  • BADIP = Bellini, Daniele / Schneider, Stefan (Hrsgg.) (2003-2018): Banca dati dell'italiano parlato, Graz, Karl-Franzens-Universität (Link).
  • Benveniste 1966 = Benveniste, Émile (1966): Problèmes de linguistique générale, Paris.
  • De Mauro u.a. 1993 = De Mauro, Tullio u.a. (1993): Corpus del Lessico di frequenza dell'italiano parlato. , in: BaDIP, Milano, Etas (Link).
  • Krefeld/Lücke 2012 = Krefeld, Thomas / Lücke, Stephan (2012): Essere in Italien: Gibt es eine Semantik der Person hinter der morphologischen Unregelmäßigkeit?, in: Natale u.a., 395-411 (Link).
  • Mayerthaler 1981 = Mayerthaler, Willi (1981): Morphologische Natürlichkeit, Wiesbaden, Athenaion.
  • Natale u.a. 2012b = Natale, Silvia u.a. (Hrsgg.) (2012): "Noio volevàn savuàr" – Studi in onore di Edgar Radtke per il suo sessantesimo compleanno / Festschrift für Edgar Radtke zu seinem 60. Geburtstag , Frankfurt am Main, Lang.
  • NavigAIS = Tisato, Graziano (2017): NavigAIS. AIS Digital Atlas and Navigation Software, Padua, Istituto di Scienze e Tecnologie della Cognizione (ISTC) - Consiglio Nazionale delle Ricerche (CNR) [Online-Version von Jaberg/Jud, 1928-1940, Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS)] (Link).
Bei den Korpusabfragen ist die vorgegeben Syntax zu beachten: Das Kommando: ‘.V.FARE.faccio’ liefert alle Belege einer einzelnen Form, hier von faccio; das Kommando ‘.V.fare’ liefert alle Formen des Verbs fare, die im Korpus vorkommen.
Vgl. zu diesem und zum nächsten Kapitel Krefeld/Lücke 2012.
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