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Älteste Sprachzeugnisse

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Zitation: Thomas Krefeld (2020): Älteste Sprachzeugnisse. Version 4 (06.12.2020, 15:38). Lehre in den Digital Humanities. , url: https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=161913&v=4



1. Perzeption der Diglossie: die Synode von Tours (813)

Wie in der Vorlesung über Latein und Vulgärlatein ausgeführt (Link), spiegeln sich die Entwicklungen der  gesprochenen Sprache nicht direkt und kontinuierlich in der Schriftlichkeit wieder; aus heutiger sprachgeschichtlicher Sicht kann man daher feststellen, dass noch sehr lange in lateinischer Sprache geschrieben wurde, während in der Mündlichkeit längst romanische Sprachen gebraucht wurden, jedoch ohne, dass sich dieser massive Wandel in eigenen Sprachnamen niedergeschlagen hätte. Entsprechende Funktionsteilungen zwischen zwei Sprachen bzw. zwei Varietäten einer Sprachen bezeichnet man als Diglossie (vgl. Krefeld 2017o; Link). Sprachgeschichtlich interessant sind nun gerade die Phasen, in denen die Sprecher/Schreiber selbst beginnen die Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Nebeneinander zweier unterschiedlicher Sprachen wahrzunehmen und explizit als solche zu bezeichnen. Das erste entsprechende Dokument, in dem von ‘romanischen’ Sprachen die Rede ist, stammt aus dem karolingischen Reich Karls des Großen, genauer: aus dem Jahre 813. In den Beschlüssen der Bischofssynode von Tours wurde verfügt, dass die Predigt (spätlat. homilia) in der katholischen Messe nicht mehr auf Latein, sondern auf Romanisch oder Deutsch zu erfolgen habe. In Paragraph XVII heißt es dazu mit Blick auf die Person des Bischofs:

"Et ut easdem omelias quisque aperte transferre studeat in rusticam Romanam linguam aut Thiotiscam1, quo facilius cuncti possint intellegere quae dicuntur." (Quelle)

‘Er möge sich bemühen jede dieser Predigten offen in die romanische Volkssprache oder in die deutsche Sprache zu übertragen, damit alle die [Predigten], die vorgetragen werden, besser verstehen können.’ (wörtl. Übers. Th.K.)

Hier werden die Schwierigkeiten das Lateinische zu verstehen unmissverständlich formuliert. Man beachte auch, dass ein klares Bewusstsein der Differenz zwischen Lateinisch und Romanisch vorliegt (ein Alteritätsbewusstsein), aber noch kein Bewusstsein spezifischer romanischer Einzelsprachen (kein einzelsprachliches, im speziellen Fall: ‘französisches’ Identitätsbewusstsein).

2. Älteste Dokumente: Zeugnisse und Texte

Es ist jedoch festzuhalten, dass keineswegs alle frühen Dokumente des Romanischen bei ihren Verfassern das Bewusstsein sprachlicher Alterität voraussetzen; einzelne Formen mögen durchaus ganz unwillkürlich in lateinische Texte eingeflossen sein; gelegentlich ist eine eindeutige und alternative Zuweisung entweder zum Lateinischen oder aber zum Romanischen überhaupt unmöglich. Es gibt aber auch Texte, in denen das Nebeneinander lateinischer und romanischer Teile eindeutiger Ausdruck eines Bewusstseins der Zweisprachigkeit ist. Das gilt zum Beispiel dann, wenn in Passagen mit einer bestimmten Funktion vom Lateinischen zum Romanischen gewechselt wird, oder wenn in lateinischen Texten nachträglich am Rand oder zwischen den Zeilen romanische Ausdrücke eingefügt werden (sogenannte Glossen). Ähnliches gilt für wörterbuchartige Listen von Ausdrücken, denen jeweils Übersetzungen gegenübergestellt werden; auch in diesem Fall spricht man von Glossen bzw. Glossaren (vgl. DEFAULT)..

Bevor wir einige Beispiele der frühen Schriftlichkeit präsentieren2, ist noch eine andere Vorbemerkung, eher: eine Erinnerung an den Begriff der Zweistöckigkeit der romanischen Sprachräume erforderlich; die ersten Dokumente sind Jahrhunderte älter als die Standardsprachen; daher ist es strenggenommen auch nicht sinnvoll, sie mit diesen Sprachnamen zu identifizieren. Die Sprachzuweisungen werden in den folgenden Überschriften daher in einfache Anführungszeichen gesetzt; ‘französisch’, ‘italienisch’ usw. sind im Sinne von ‘Idiom, das als Vorläufer einer oder mehrerer Varietäten des Französischen, Italienischen usw. anzusehen ist’. Die Auswahl der Textbeispiele wird in erster Linie durch das Alter bestimmt; sie will aber auch die Vielfalt der initialen Schriftlichkeit zeigen.   

2.1. ‘Französisch’: Les Serments de Strasbourg/Straßburger Eide (842)

Als ältester Text in romanischer  und auch in deutscher Sprache gelten die sogenannten Straßburger Eide; es handelt sich dabei um ein für die europäische Geschichte durchaus wichtiges Dokument, nämlich um ein Bündnis, in dem sich zwei Enkel Karls des Großen, Ludwig der Deutsche und Karl II (der Kahle), gegen ihren Bruder Lothar3 verschworen; aus dem Reich Karls II ging später Frankreich4 und aus dem Reich Ludwigs das Deutsche Reich hervor (Link); man mag also diesen Text geradezu als Sprachdenkmal bezeichnen. Die Bündnispartner schworen jeweils in der Sprache des anderen. Es folgt die romanische Formel Ludwigs:

"Pro deo amur et pro christian poblo et nostro commun salvament, d'ist di in avant, in quant deus savir et podir me dunat, si salvarai eo cist meon fradre Karlo et in aiudha et in cadhuna cosa, si cum om per dreit son fradra salvar dift5, in o quid il mi altresi fazet, et ab Ludher nul plaid nunquam prindrai, qui meon vol cist meon fradre Karle in damno sit." (Quelle)

deu. Übersetzung: ‘Für die Liebe Gottes und für das christliche Volk und unser gemeinsames Wohl, werde ich von diesem Tage an, soweit mir Gott Wissen und Können gibt, meinem Bruder Karl beistehen, sowohl in [Form von] Hilfe als auch in jeder anderen Sache, so wie man zu Recht seinem Bruder beistehen muss, zu dem [Zweck], dass er [es] mir genauso macht, und mit Lothar werde ich niemals eine Vereinbarung  treffen, die - [so] mein Wille - meinem Bruder Karl zum Schaden sei.

Der althochdeutsche Eid Karls findet sich ebenfalls in der angegebenen Quelle. Zudem sind Schwurformeln der zugehörigen Heere überliefert, die jedoch jeweils in der eigenen Sprache und nicht in der Sprache des anderen Heeres erfolgten. Hier ist wiederum der romanische Wortlaut:

"Si Lodhuvigs sagrament, que son fradre Karlo iurat, conservat, et Karlus meos sendra de suo part non lostanit6, si io returnar non l'int pois: ne io ne neuls, cui eo returnar int pois, in nulla aiudha contra Lodhuvig nun li iu er." (Quelle)

deu. Übersetzung: ‘Falls Ludwig den Eid, den er seinem Bruder Karl schwört, wahrt und Karl, mein Herr, seinerseits ihn nicht hält [?], [und] wenn ich ihn nicht davon abhalten kann, werde weder ich noch irgendjemand, den ich davon abhalten kann, in keiner Hilfeleistung gegen Ludwig mit ihm gehen’.

Die letztlich doch recht kurzen volkssprachlichen Eidesformeln sind in einen viel umfangreicheren lateinischen Text eingebettet (Edition); die Volkssprachen werden als romana lingua und teudisca lingua bezeichnet, also wiederum ohne eine spezifische Art von Romanisch zu identifizieren.7 Während man die deutschen Passagen dem Rheinfränkischen zuordnen kann, ist es bislang nicht gelungen die romanischen Abschnitte mit einem bekannten Dialekt des Französischen oder wenigstens des Galloromanischen zu identifizieren. Typisch altfranzösisch sind jedoch u.a.:

  • die Verwendung zweier unterschiedlicher morphologischer Kasus, von denen einer für das Subjekt (deus, Lodhuvigs, neuls) steht und der andere weitere Satzfunktionen mit aber auch ohne Präposition ausdrücken kann, wie zum Beispiel in pro deo amur  anstatt neufra. pour l’amour de Dieu; im altfranzösischen Ausdruck hat deo genitivische Funktion, ähnlich Gottes in der wörtlichen deu. Übersetzung für Gottes Hilfe;

    deus [-s], < lat. Nominativ deus Subjektkasus, so genannter ‘Rektus’
    deo, < lat. Akkusativ deum Kasus für andere Satzfunktionen, ‘Obliquus’
  • das morphologische Futur (salvarai, prindrai wie neufra. sauverai, prendrai);
  • der Ausdruck der Unpersönlichkeit durch om < lat. homo (cum om dift wie neufra. comme on doit).

Der unzweifelhaft romanische Charakter schließt jedoch einzelne lateinische Elemente wie quid und numquam keineswegs aus. Weiterhin finden sich auch Formen, die ausschließlich in diesem Text belegt sind; einen solchen vollkommen isolierten, einmaligen Beleg bezeichnet man als ‘Hapax Legomenon’, so:

  • sendra ‘Herr’ mit eingeschobenem d < lat. seniorem;
  • lostanit < ?.

Bei der sprachgeschichtlichen Interpretation der Formen ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich nicht um das Original des Dokuments, sondern um eine - gleichwohl alte - Kopie aus dem 10./11. Jahrhundert handelt. 

2.2. ‘Italienisch’: Indovinello Veronese (Ende 8./Anfang 9. Jh.?)

Dieses mutmaßlich früheste Zeugnis des Italienischen (vgl. Michel 2011, 44 f.) ist vermutlich sogar noch älter als die Straßburger Eide; es beansprucht jedoch im Unterschied dazu keine nationalgeschichtliche, sondern ausschließlich sprachhistorische Aufmerksamkeit. Die hat es jedoch in beträchtlichem Maße verdient, denn bestimmte Aspekte initialer Schriftlichkeit lassen sich exemplarisch zeigen.  Der kurze Text wurde nachträglich auf das Blatt eines älteren Gebetbuchs aus Spanien geschrieben, das über Umwege nach Verona in Italien gelangte (Link); hier eine Abbildung:

Indovinello veronese (Quelle)

In quellentreuer, oder: diplomatischer, Abschrift lautet der Text:

† separebabouesalbaprataliaaraba&albouersorioteneba&negrosemen
seminaba
† gratiastibiagimusomnip(oten)ssempiterned(eu)s

Während die beiden ersten Zeilen in einer italoromanischen Varietät geschrieben wurden, ist die dritte Zeile leicht als lateinisch zu identifizieren; das Verständnis des romanischen Textes wird bereits durch die fehlenden Wortabstände erschwert. Üblich ist folgende Transkription:

‘Se pareba boves alba pratalia araba albo versorio teneba negro semen
seminaba
Gratias tibi agimus omnipotens sempiterne deus’ 

Diese Lesart setzt bereits eine Interpretation voraus, denn vor allem der Anfang ist schwer zu verstehen; in Frage kommen Lesarten auf Grundlagen von separare ‘trennen’ (vgl. Georges 1913 [1998]; Link) oder aber von parere ‘scheinen’ (vgl. Georges 1913 [1998]; Link) und parare ‘vorbereiten, ausstatten’  (vgl. Georges 1913 [1998]; Link) + se ‘so’ (< lat. sic). Der wörtliche Sinn des Restes ist klar, so dass man etwa folgende Übersetzung formulieren kann:

‘So erscheint er/sie/es  wie Rinder (oder: stattete Rinder aus/trennte Rinder )
Weiße Felder pflügte er/sie/es
Weißen Pflug hielt er/sie/es
Schwarzen Samen säte er/sie/es
Wir danken dir allmächtiger ewiger Gott’ 

Der eigentliche Sinn des Textes wäre jedoch ein Rätsel mit der Lösung ‘Schreiben mit der Schreibfeder’:

‘Die Finger sehen aus wie Rinder,
die ein weißes Feld (d.h. die Unterlage, wie Pergament, auf die geschrieben wird) pflügten,
einen weißen Pflug (d.h. die Gänsefeder) hielten 
und schwarzen Samen (d.h. die Schrift) hinter sich zurückließen’.

Wie es scheint, ist dieser Text auch in Verona oder Umgebung entstanden, denn das Wort  versorio ‘Pflug’ gibt es noch in den modernen Dialekten dieser Gegend (vgl. AIS 1434,  in NavigAIS), ansonsten jedoch nicht.8 

Die frühen italoromanischen Zeugnisse bilden eine besonders ausgeprägte Vielfalt ab; neben dem genannten Rätsel stehen Eidesformeln (die sogenannten Placiti cassinesi oder campani; Link), pragmatische Listen (der sogenannte Conto navale pisano; vgl. Krefeld 2019ag) und zwei Graffiti in Kirchen der Stadt Rom (Comodilla), darunter die an einen Comic erinnernde Inschrift von San Clemente (11. Jahrhundert; Link).

2.3. ‘Portugiesisch’

Zunächst sind nur einzelne Elemente in einer durchweg lateinischen Schenkungsurkunde, der so genannten Doação à Igreja de Sozello ‘Schenkung an die Kirche von Sozello’ (870; Link), bezeugt. Einen einzelnen Satz liefert die kurze, ebenfalls lateinische Notiz einer Bürgschaft. Diese bereits drei Jahrhunderte jüngere notícia de fiadores aus dem Jahr 1173 (Abbildung) endet mit dem Satz:

"Istos fiadores atan .v. annos que se partia de isto male que li avem" 
‘Diese Bürgen warten 5 Jahre, dass diese Schuld, die wir bei ihnen haben, eingelöst wird’  

Ähnliche, teils auch etwas längere juristische Texte derselben Epoche mit einem mehr oder weniger großem galego-portugiesischem Anteil werden in Souto Cabo 2014 vorgestellt.

2.4. ‘Spanisch’: Glosas emilianenses (977?)

Die ältesten romanischen Zeugnisse aus Nordspanien machen auf eine andere Schreibtradition aufmerksam, nämlich  auf die bereits erwähnten Glossen. Dabei handelt es sich um kurze erklärende, meist übersetzende Zusätze, oft einzelne Wörter in romanischer Sprache, die in lateinischen Manuskripten angebracht werden.

Nach ihrem früheren Aufbewahrungs- und vielleicht auch Entstehungsort, dem Kloster San Millán de la Cogolla,  wurden die Glosas emilianenses benannt, die in einen lateinischen  Kodex eingetragen wurden:

Neben den zahlreichen iberoromanischen Annotationen finden sich im selben Kodex auch zwei baskische Glossen; der vollständige Text (aus Menéndez Pidal 1950, 3-9) ist online zugänglich.

Der längste Satz in romanischer Sprache lautet:

"conoajutorio de nuestro dueno, dueno Christo, dueno Salbatore, qual dueno get ena onore, equal dueno tienet ela mandatjone cono Patre, cono Spiritu Sancto, enos  sieculos delosieculos. Facanos Deus omnipotes tal serbitjo fere ke denante ela sua face gaudioso segamus. Amen." (aus Menéndez Pidal 1950, 3-9, online)

deu. Übersetzung:
‘Mit Hilfe unseres Herrn, Herrn Christus, Herrn [und] Retters, welcher Herr ist in der Ehre, und welcher Herr  die Macht hat, mit dem Vater, mit dem Heiligen Geist, in alle Ewigkeit. Lasse uns Gott der Allmächtige, solchen Dienst tun, dass wir vor seinem Antlitz fröhlich seien’. (aus Bollée/Neumann-Holzschuh 2003, 57 f.)

Der Text zeigt charakteristische Merkmale des Aragonesischen, so die Art. Mask. Sing. o / Fem. Sing. a, den Gebrauch des Artikels vor dem Possessivpronomen (ela sua face), der auch das Standardital. kennzeichnet (vgl. it. la sua faccia), und das fem. Genus von a onore ‘die Ehre’ (vs. span. el honor).

Charakteristisch für die frühe Schriftlichkeit aller romanischen Sprachen ist die Varianz in der Zusammenschreibung grammatischer und lexikalischer Einheiten:

  • conoajutorio (= Präp. con  + Art. o + Substantiv ajutorio), delosieculos vs. cono Patre, enos  sieculos usw.

Man beachte aber auch, dass die Verbindung aus einsilbiger Präposition (cono, ena usw.) und Artikel ganz konsequent zusammen geschrieben wird, die Verbindung von dreisilbigem denante ela jedoch nicht. 

2.5. ‘Rätoromanisch’

Mit Bezug auf das Romanische in der Ostschweiz, das im offiziellen Sprachgebrauch der Schweizerischen Eidgenossenschaft als Rätoromanisch bezeichnet wird und das man im sprachwissenschaftlichen Kontext eher als Bündnerromanisch bezeichnen sollte9, werden hier kurz zwei Beispiele erwähnt, weil sie für unterschiedliche Aspekte der frühen romanischen Schriftlichkeit exemplarisch sind. 

2.5.1. Die Würzburger Federprobe (ca. 1000)

Der kurze Satz, der in eine ansonsten lateinische, in St. Gallen verfasste Cicero-Handschrift eingefügt wurde, lautet:

"Diderros ne habe diege muscha."

Welche Bedeutung man dieser romanischen Sprachprobe gibt, hängt von der Interpretation des Wortes ne ab. Versteht man es als Negation, ergibt sich:

Lesart 1: 
‘Diderros hat nicht zehn Fliegen’ (d. h. wohl: ‘D. ist ein armer Teufel’ oder: ‘D. hat keine Lust’). (Stricker o.J.; Link)

Von Francesco Sabatini wurde dagegen vorgeschlagen, ne als Pronominaladverb im Sinne von fra. en/ita. ne ‘davon’ aufzufassen.

Lesart 2:
‘Diderros hat davon [nichts als] zehn Fliegen’;
"ne ‘davon’ würde sich dann auf die Schreibertätigkeit beziehen, die Diderros nur einen armseligen Gewinn einbringt: «D. ne ha (ne ricava) dieci mosche»". (Liver 1999, 84 f.)

Unabhängig von der Lesart ist vollkommen unklar, warum und wozu der Schreiber diese Notiz angebracht hat. Das fehlende Verständnis dieser pragmatischen Umstände erklärt die reichlich hilflose Bezeichnung des Sätzchens als ‘Federprobe’, so als ob der Schreiber sein Schreibgerät - eine Gänsefeder, die zugeschnitten werden musste - ausprobieren wollte.  

Bemerkenswert ist dieses Sprachzeugnis aber nicht wegen seiner Mehrdeutigkeit, die sich eigentlich in der einen oder anderen Art in allen frühen Belegen finden und wegen der pragmatischen Rätselhaftigkeit, sondern wegen der Schwierigkeit es einer bestimmten Sprache zuzuweisen; die

"Zuweisung zu einer Sprache, die man Protorätoromanisch nennen mag, [ist] möglich wenn auch nicht zwingend [...]" (Liver 1999, 84)

2.5.2. Die Einsiedler Interlinearversion (11./12 Jahrhundert) 

Eine ganz ähnliche Entstehungsgeschichte wie die glossas emilianenses (DEFAULT) scheint die sogenannte Einsiedler Interlinearversion gehabt zu haben. Wie der Name schon andeutet, wurde dieser alträtoromanische (bündnerromanische) Text zwischen die Zeilen einer lateinischen Vorlage geschrieben. Bei der Vorlage handelt es sich um eine lateinische Predigt aus Pfäfers im St. Galler Rheintal. Wie die Karte zeigt, liegt der Ort heute im deutschsprachigen (alemannischen) Sprachraum der Ostschweiz. Der lateinische Text wird ins 8./9. Jahrhundert datiert, die altbündnerromanische Überseztung wurde im 11./12. Jahrhundert hinzugefügt. Wie Ricarda Liver 1969 herausgearbeitet hat, kann man - genauer gesagt - von einer altsurselvischen Version sprechen; die genaue sprachwissenschaftliche Analyse zeigt, dass beide Versionen jeweils Einflüsse der anderen Sprache aufweisen:

"wo der Schreiber des einen (des lateinischen Textes) sich gehen lässt, romanisiert er; tut der andere, der gewohnt ist lateinisch, nicht romanisch zu schreiben, dasselbe, so latinisiert er" (Liver 1969, 213).

Der komplette Kodex ist online einsehbar; die folgende Abbildung zeigt den Anfang der relevanten Predigt (S. 452 ff.):

Anfang der Einsiedler Interlinearversion (Quelle, 452)

Die Transkription der ersten zwei Zeilen lautet:

"Satis nos oportit timere tres causas,
Karissimi fratres, per quem tottus mundus perit"
Die blass braun geschriebene Interlinearversion dazu:
"Afunda nos des time tres causas,
kare frares, per aquilla tut i lo seulo perdudo".

In aktuellem Surselvisch (vgl. den Kommentar in Liver 1969) entspricht dem:

"Avunda descha ei a nus da temer treis caussas,
cars frars ...
Deu. Übersetzung:
'Gar sehr geziemt es uns, drei Dinge zu fürchten,
liebe Brüder, wodurch die ganze Welt verloren ist'.
( Transkription und Übersetzung aus: Stricker o.J.; Link

2.6. Rumänisch: Scrisoarea lui Neacşu/Brief des Neacşu (1521)

Bereits in die frühe Neuzeit gehört das älteste Dokument des Rumänischen; es führt gleichzeitig in eine völlig andere kommunikationsräumliche Konstellation. Ähnlich wie im Fall der Straßburger Eide sind wir über die pragmatischen Hintergründe sehr gut informiert (vgl. Link): Es handelt sich um einen Brief, den der Kaufmann Neacșu Lupu aus Câmpulung (deu. Langenau) im Jahre 1521 (wohl am 29./30. Juni 1521)  an Johannes Benkner, den Stadtrichter von Kronstadt (rum.  Braşov) schickte, um ihn vor einem möglichen Angriff heranrückender Türken zu warnen

Câmpulung/Langenau, Braşov/Kronstadt

Der Brief ist in kyrillischem Alphabet geschrieben; er beginnt und endet mit slawischen Gruß- und Höflichkeitsformeln; einige Slawismen, wie z.B. die Gliederungspartikel i pa(k), finden sich auch im rumänischen Teil des Briefs. In der Schriftlichkeit der Rumänen, die orthodoxer Konfession waren (und zu einem großen Teil noch sind), spielte das Kirchenslawische eine ganz ähnliche Rolle, wie das Lateinische in den katholischen westromanischen Gebieten. 

Der Brief des Neacşu (Quelle)

In der folgenden Transkription mit aktueller rumänischer Version und deutscher Übersetzung sind die slawischen Ausdrücke kursiv gesetzt (Quelle): 

    1. m(u)drom(u) i plemenitom(u) i cistitom(u) i b[o]g[o](m) darovannom(u) župa(n) hani(š) be(g)ne(r) o(t) brašo(v) mno(g)[o]
    2. z(d)ravie o(t) ne(k)šu(l) o(t) dlugopole i pa(k) dau štire do(m)nïetale za lukru(l) tu(r)cilo(r) kum ami
    3. auzi(t) èu ku ipuratu(l) au èši(t) de(n) sofïe ši aimi(n)tre nue ši seu du(s) i su(s)
    4. pre dunure i pa(k) su štïi do(m)nïjata ku au veni(t) u(n) ?(m) de la nikopoe de mïe me(u)
    5. spu(s) ku au vuzu(t) ku ?kïi loi ku au treku(t) cele korabïi ce štïi ši do(m)nïjata
    6. pre dunure i su(s) i pak su štïi ku bagu den tote ?rašele kute [50] de ?mi(n) su e
    7. fïe in ažuto(r) i korabïi i pak su štïi kumu seu prinsu nešte me(š)šte(r) de(n) c[a]ri
    8. gra(d) ku(m) vori trece acele korabïi la loku(l) cela (st)rimtu(l) ce šttïi ši do(m)nïjata
    9. i pa(k) spui do(m)nïetale de lukru(l) lu mahame(t) be(g) ku(m)u ami auzit de boeri ce sunti medžïja(š)
    10. ši de dženere mïu negre kumu eu da(t) ipuratu(l) slobozïe lu mahame(t) beg pre iu i?i va
    11. fi voe pren cera rumunesku jaru èli su treku i pa(k) su štïi do(m)nïjata ku are
    12. friku mare ši busurab de ace(l) lotru de mahame(t) be(g) ma(i) vurto(s) de do(m)nïele vo(s)tre
    13. i pa(k) spui do(m)nïetale ka ma(i) marele mïu de ce ami icele(s) šïeu eu spui do(m)nïetale jaru
    14. do(m)nïjata ešti icelepti ši aceste kuvi(n)te su cïi do(m)nïjata la tine su nu štïe
    15. umi(n) mulci ši do(m)nïele vo(s)tre su vu puzici ku(m) štici ma(i) bine i b[og]i te ve(s)[e]li(t) am[in]u

aktuelle rumänische Version:

    1. mudromu i plemenitomu i čistitomu i bogom darovannomu župan hanĭš begner ot brašov mnogo
    2. zdravie ot někšul ot dlŭgopole. i pak dau știre domniye-tale za lucrul turcilor cum am
    3. auzit yeu că împăratul au yeșit den sofiya și aimintrea nu-ye și se-au dus în sus
    4. pre dunăre. i pak să știyi domniya-ta că au venit un wom de la nicopoye de miye my-au
    5. spus că au văzut cu wochiyi loi că au trecut cele corabiyi ce știyi și domniya-ta pre dunăre în sus.
    6. i pak să știyi că bagă den tote warașele căte 50 de womin să
    7. fiye înn ajutor în corabiyi. i pak să știyi cum se-au prins nește meșter‹i› den țari
    8. grad cum vor trece acele corabiyi la locul cela strimtul ce știyi și domniya-ta.
    9. i pak spui domniye-tale de lucrul lu mahamet beg cum am auzit de boyari ce sănt megiyaș‹i›
    10. și de genere-miyu negre cum y-au dat împăratul sloboziye lu mahamet beg pre iwo-i va
    11. fi voya pren țara rumănească yară yel să treacă. i pak să știyi domniya-ta că are
    12. frică mare și băsărab de acel lotru de mahamet beg mai vărtos de domniyele vostre.
    13. i pak spui domniye-tale ca mai marele miyu de ce am înțeles și-yeu. yeu spui domniye-tale yară
    14. domniya-ta yești înțelept și aceste cuvinte să țiyi domniya-ta la tine să nu știye
    15. umin mulți și domniyele vostre să vă păziți cum știți mai bine. i bogĭ te veselit aminŭ.

deu. Übersetzung:

    1. Dem weisen, edlen und ehrenhaften und von Gott beschenkten Herrn Hans Benkner von Brașov, viele
    2. Grüße von Neacșu von Câmpulung. Und so lasse ich Euch wissen über die Sache der Türken, wie ich
    3. gehört habe, dass der Kaiser Sofia verlassen hat, und anders ist es nicht, und ist gegangen
    4. donauaufwärts. Und so solltet Ihr wissen, dass ein Mann aus Nikopole gekommen ist, der mir
    5. sagte, dass er mit eigenen Augen gesehen hat, dass die Schiffe, die auch Ihr kennt,
    6. donauaufwärts passiert sind. Und so solltet wissen, dass sie in allen Städten je 50 Mann einsetzten, um
    7. bei den Schiffen behilflich zu sein. Und so solltet wissen wie einige Meister aus Tsarigrad
    8. haben sich engagiert die Schiffe an die enge Stelle, die auch Ihr kennt, zu führen.
    9. Und so sage ich Euch über die Sache von Mahomet beg, wie ich von benachbarten Herrschaften gehört habe
    10. und von meinem Schwiegersohn Negre, wie der Kaiser dem Mahamet Beg Freibrief gegeben hat, so
    11. nach seinem Wille durch das Rumänische Land zu marschieren. Und so solltet Ihr wissen, dass auch
    12. Basarab große Angst vor diesem Räuber Mahomet hat, mehr als Eure Herrschaften.
    13. Und so sage ich Euch, wie meinem Vorgesetzter, worüber ich verstanden habe. Ich sage (es) Euch und
    14. Ihr seid weise und diese Wörter solltet Ihr bei Euch halten, damit nicht viele Menschen
    15. erfahren, und Eure Herrschaften sollten sich schützen nach bestem Wissen. Und Gott soll Dich beglücken. Amen.

Man beachte, dass der rumänischsprachige Absender aus dem Fürstentüm Walachei (heute: die rumänische Landschaft Muntenien) sich offensichtlich in ganz selbstverständlicher Weise auf rumänisch an den siebenbürgisch-sächsischen, aber mehrsprachigen Richter der dominant deutschsprachigen, aber ebenfalls mehrsprachigen Stadt Kronstadt wenden konnte, die zu jener Zeit - wie ganz Siebenbürgen - zum Königreich Ungarn gehörte.   

3. Fazit: Vorausbauphasen

Die Anfänge der romanischen Schriftlichkeit sind vor dem Hintergrund einer bereits seit etlichen Jahrhunderten lateinisch verschriftlichten Kultur zu sehen; sie rücken daher in bestehende Schreib– und Diskurstraditionen ein. Pragmatische Zwecke in rechtlich–administrativen und kirchlich–religiösen Zusammenhängen stehen im Vordergrund, insbesondere die Verbesserung der Verständlichkeit (Glossen, Interlinearversionen) und die Herstellung von Authentizität und Glaubwürdigkeit (bei den Eidesformeln). Auch die spontan und spielerisch erscheinenden Zeugnisse, wie der indovinello oder die Würzburger Federprobe setzen eine selbstverständliche Vertrautheit mit der etablierten lateinischen Schreibtradition und den verfügbaren Manuskripten voraus.  Formal–ästhetisches und in diesem Sinne literarisches Schreibinteresse ist in den ersten Zeugnissen nicht erkennbar.

Einen zusammenhängenden und etwas längeren Text bilden nur die Straßburger Eide und der Brief des Neacşu; letzterer fällt jedoch in eine Zeit, in der ‘das’ Port, Span., Fra., Kat., Okzitanische und Italienische bereits über starke, fest etablierte Ausbautraditionen verfügen. In den anderen genannten Fällen sollte man allgemein eher von Sprachzeugnissen als von Texten reden. Alle diese Zeugnissen dokumentieren die romanischen Sprachen in engster Verbindung mit den bereits vorher etablierten Schriftsprachen, nämlich mit dem Lateinischen im Fall des Port., Span., Fra. und Ital. und dem Altkirchenslawischen im Fall des Rumänischen. Keines der genannten Zeugnisse, auch nicht das Fra. und Rum., lässt sich als Beginn einer kontinuierlichen Schreib- bzw. Ausbautradition ansehen; aus diesem Grund darf man auch sprachübergreifend von der Vorausbauphase der romanischen Sprachgeschichte sprechen; allerdings zeigt das rumänische Beispiel, dass die Phase je nach der romanischen Sprachregion sehr unterschiedlich lange dauerte.

Bibliographie

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  • Liver 1969 = Liver, Ricarda (1969): Zur Einsiedler Interlinearversion, in: Vox Romanica, vol. 28, 209-236 (Link).
  • Liver 1999 = Liver, Ricarda (1999): Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische., Tübingen, Gunter Narr Verlag.
  • Menéndez Pidal 1950 = Menéndez Pidal, Ramón (1950): Orígenes del español (3ª ed.), Madrid.
  • Michel 2011 = Michel, Andreas (2011): Einführung in die italienische Sprachwissenschaft, Berlin / New York, De Gruyter.
  • Souto Cabo 2014 = Souto Cabo, José António (2014): Os primeiros escritos em galego-português: revisão e balanço, in: Eirín García/López Viñas, 369-393 (Link).
  • Stricker o.J. = Stricker, Hans (o.J.): Werdenberg Namenbuch (Link).
  • Wolf Heinz Jürgen; Ruhstaller 1996 = Wolf Heinz Jürgen; Ruhstaller, Stefan (1996): Las glosas emilianenses, Sevilla, Universidad de Sevilla.
Dieses Wort ist eine Latinisierung einer althochdeutschen Entsprechung von deutsch; es handelt sich um eine Adjektivableitung von thiot ‘Volk’ (vgl. AWB (1952-), Link).
Einen Gesamtüberblick aller Originaltexte bis 1150 geben Frank/Hartmann 1999.
Auf den Namen dieses Herrschers über das mittlere der drei Gebiete geht die Regionalbezeichnung Lothringen, bzw. fra. Lorraine zurück.
Nicht zuletzt im Hinblick auf diese nationalgeschichtliche Bedeutung stilisiert Cerquiglini 1991 die Straßburge Eide zur ‘naissance du français’.
Im Unterschied zur zitierten Quelle wird hier dift < lat. debet ‘muss’ und nicht dist geschrieben.
Im Unterschied zur zitierten Quelle wird hier nicht lo tanit, sondern die im Text eindeutig lesbare, aber vollkommen rätselhafte Form lostanit geschrieben, so wie es auch andere Editionen halten.
Man beachte die Asymmetrie zwischen den Sprachnamen; während romana lingua eine ganze Sprachfamilie identifiziert, bezieht sich teudisca lingua nur auf den Ausschnitt aus einer Sprachfamilie, denn ein analoger Oberbegriff für die germanischen Sprachen fehlte; die modernen Bezeichnungen deu. germanisch/fra. germanique usw. sind rein wissenschaftliche Termini.
Lediglich ein ganz isolierter Beleg findet sich noch in Ottiglio, P 158, östlich von Turin.
Der Ausdruck Rätoromanisch ist mehrdeutig; er wird teils im Sinne des offiziellen Sprachgebrauchs nur für das Romanische in Graubünden verwandt, das durch die Sprecher selbst meist einfach als Romanisch, bzw. als rumantsch bezeichnet wird; teils wird er allerdings auch als Oberbegriff für das Romanische in Graubünden, in den Dolomiten und im Friaul gebraucht. Diese allgemeine Verwendung ist jedoch äußerst problematisch, da sie eine historische Zusammengehörigkeit der drei Sprachgruppen im Sinne einer gemeinsamen Sprache suggeriert, die es jedoch niemals gegeben hat (vgl. Krefeld 2003c).
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