Romanische Appellative (ohne Salzburger Becken)
- Romania alpina und Rätoromanisch
- „questione ladina“: Diskussion um den Status des Rätoromanischen, Zusammenfassung der heterogenen Mundarten Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friaulisch zu „rätoromanischer“ Latinität
- Mehrdeutigkeit des Begriffs des Rätoromanischen:
- Bezeichnung für die o.g. Dialektgruppen, v.a. in Schweiz nur i.S.v. „Bündnerromanisch“
- mit Verweis auf römischen Provinznamen wird gemeinsame Geschichte suggeriert, welche aber nicht existiert: Zentral-/ Ostalpen entsprachen in römischer Zeit RAETIA, Provinzen NORICUM und VENETIA
- VENETIA: seit Beginn 2. Jhd. Teil des Imperiums, d.h. schon früh sehr intensive, flächendeckende Romanisierung
- RAETIA und NORICUM: Romanisierung erfolgt später und weniger flächendeckend
- In RAETIA nicht zwingend einheitliches ethnisches/ sprachliches Substrat; möglich, dass RAETII Sammelbezeichnung für ethnisch und sprachlich verschiedene Stämme ist statt Ethnikon
- sprachliche Gemeinsamkeiten der drei Gebiete:
- bis 6. Jh.: einheitliches Regionallatein (inkl. Gallia Cisalpina) bis Einbruch der Bajuwaren aus dem Norden, der Langobarden von Süden und der Slawen von Osten, d.h. „Rätoromanisch“ entspricht der Cisalpina
- vor 11. Jh. lassen sich lautliche Charakteristika des Rätoromanischen nicht nachweisen, gilt für:
- Neuerungen, wie Palatalisierung von lat. CA > ćá und A > e
- konservative Merkmale, wie Konservierung des auslautenden lat. -s
d.h. man kann sich bei der Differenzierung nicht auf phonetische Merkmale stützen, sondern muss mit Wortgeographie arbeiten, im Vordergrund Reliktwörter
- Romanische Appellative
2.1 Allgemeines
- Reliktwörter sind Relikte eines nicht mehr gesprochenen Idioms und zeugen von Phasen der Zweisprachigkeit, d.h. hier ist ein Sprachwechsel noch nicht endgültig vollzogen
- Reliktwörter dokumentieren eine kulturelle, lebensweltliche Kontinuität → treten sie gehäuft auf, so kann man von einem historischen Sprachwechsel ohne kulturgeschichtlichen Bruch sprechen
- im VALTS-Gebiet: viele von Romanen übernommene Wörter stammen einerseits aus dem Bereich des alpinen Lebensraums, z.B.:
- Geländeinformationen: Tobel „steile Waldschlucht“, Gande/ Lamer „Geröllhalde“, Rüfi „Erdrutsch“, etc.
- Wetter: Brente „Talnebel“, bischen „stürmisch schneien“, Gäferle „dünne Neuschneeauflage“, etc.
- Pflanzen/ Tiere: Quatterpätsch und Synonyme „Alpensalamander“, Frosel „Hagebutte“, Pfetschen „junge Tannen“, etc.
- andererseits aus Bereichen der Almwirtschaft:
- Viehhaltung: Tschungle „Jochriemen“, Pulle/Pullätlein „junge Henne“, glutschen „Stimme der Glucke beim Brüten“, etc.
- Heuen: Are „Faßplatz für die Winterheuburden“, Strützete „Heureste, die auf der Wiese zurückbleiben“, etc.
- Milchverarbeitung
2.2 Romanische Appellative aus der Milchverarbeitung
- Drehgalgen für den Sennkessel:
- Kessi-Turn: lat. tornāre „drechseln“ < lat. tornus „Dreheisen zum Drechseln“;
- charakteristische Bezeichnung der Walser, Verbreitung im Montafon und Brand (V)
- turn, -ua-, etc. im westl. Oberitalien und Bündnerrom. am häufigsten belegt, über das Prättigau nach Liechtenstein und Vorarlberg
2. Kessi-Türner: Weiterbildung von Turn
- im Liechtensteiner Oberland (L), Bündner Rheintal (GR), Übersaxen (V), Schnifins (V)
3. Tschengel: lat. cicōnia „Storch“ bzw. Diminutiv ciconiola
- Übertragung von Tiernamen häufig, in diesem Fall in der Romania schon früh erfolgt
- muss roman. Ursprungs sein, da anlautendes tʃ- im alten deutschen Lautstand nicht existent
- Käsemasse:
1. Schotten: Schotten < lat. excocta „herausgekochte Substanz“
- gehört zur ältesten Schicht roman. Relikwörter
- lat. anl. EXC(OCTA) als s-, d.h. anl. E- schon früh abgefallen, Lautfolge -kʃk- zu sk- vereinfacht, Wandel zu >s (im Bair. um 1100 n.Chr.)
2. Tschotten: in Südtirol; anlautendes tʃ- als festgewordenere Gleitlaut, wenn das Wort mit unbestimmten Artikel verwendet wird (wie in Tschopf ,Schopf´, Tschüppel ,Schüppel´)
3. Press(e), Spress:
- Presse in Westtirol, von rom. PRESSU
- Spress < lat. EXPRESSU „geronnen, gebrochen“, in Oberitalien, Abfall anl. E-, (e)kʃp- > zu spr- vereinfacht
4. Polmen, Pulle, Pulder(e):
- gehören zusammen, treten in Südvorarlberg und Liechtenstein auf
- mittelbündn. puélna, nah an Pulme -> Polmen
- weitere Entwicklung: *PULNA, Umstellung von -ln- zu -nl- , Pullen
- Pulder(e): -ll- zu -ld- (Liechtenstein, St. Gallen, Graubünden)
5. Britschger: nur im Kleinwalsertal belegt; altroman. Form *BRSICARE, gall. *BRISCO ,brüchig´, Einschub von-k- ist ein häufiger, aleman. Wortbildungstyp
- Molke:
- Schotten: in Liechtenstein, Vorarlberg, nordwestl. Bodenseegebiet, Graubünden, Westtirol
- Schruu, Schruung:
- im St. Gallener Oberland und südl. Churer Rheintal Bezeichnugn für das Käsewasser der 1. Scheidung
- lat. *SERONEM ,Käsewasser´
3. Tschette:
- in Nauders und Graun,
- ungeklärt, vielleicht Mischform aus Schotten und Tschett ,künstlicher Wasserteich´
4. Jutte:
- nur an vier Orten Westtirols belegt
- Entlehnung aus iutta, -ae ,Brühe´, geht auf gall. JUTTA zurück
5. Sirmete:
- nur in Furna (Graubünden) belegt, neben Schotten als Bezeichnung für Molke der 1. Scheidung
- Annahme: Kreuzung aus SERUM + PULMENTU (engad. pulmaint, surs. pulment ´Molken, Milcherzeugnisse´)
- Formgefäße für Käse und Zieger:
- Skap:
- rundes bzw. viereckiges Holzgeschirr mit durchlöcherten Böden und Wänden, in Graubünden
- surs. scap ,Ziegerformer´
2. Järb: nur in Oberriet und Pfäfers (St. Gallen), Walserwort
- Möglichkeit 1: vorröm. *KARABO-
- Möglichkeit 2: *KARB- > kxarp ,hölzerner Schellriemen, seitl. gebogene Holzteile beim Joch
- müsste über altfrkpr. *garb > dzerb ins Walserdeutsche, anl. i- spiegelt ältere Stufe der rom. Entwicklung g > z wieder
3. Ruschge:
- ovales, längl., nach oben hin konisch zulaufendes Holzgeschirr im Kleinwalsertal
- gallorom. RUSCA ,Baumrinde´
4. Rüschge: vereinzelt in Westtirol, von rüsca mit palartalisiertem -u- (in Val Müstair, GR)
5. Bise: könnte von bündnerrom. pisar ,zerstampfen´ < vlat.PINSARE ,zerstampfen´ herstammen
- Rückstand beim Auslassen von Butter:
- Flane/Fäule Föle: lat. VETULUS (gemeinroman. Diminutiv von VETUS ,alt´), Dublette : obengad. veglianas, viglianas/ surm. vigliangs ggü. oberengad. veglias
- Fäule: in Vorarlberg und Churer Rheintal; alte roman. Schicht *veglias > surs. vilieuls mittelbündner.-obengad viliangs, viglianas
- Flane: in Westtirol bis Roppen, im Norden bis zur bairisch-alemann. Dialektgrenze zw. Weißenbach und Stanzach; Typ mittelbündn.-obengad. veglianas
- Flöne: im Vintschgau, setzt jüngere roman. Schicht, zu der auch uengad. veglias gehört
2. Nidel: nida ,Buttermilch´ < gall. *NITA ,Tuch´ bzw. spätgall. *NIDLO ,Tuch´; weit verbreitete Metapher ,Decke´ für ,Rahmschicht´
3. Wätzlet(e), Wätzel: von lat. *VETUS LACTE(M) ,alte Milch´
- Bibliographie:
Gabriel, Eugen (1991): Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluß des Fürstentums Liechtenstein, Westtirols und des Allgäus. Band IV: Wortgeographie I, Nord/Süd- (deutsch-romanischer), West/Ost- (alemannisch-bairischer) Gegensatz. Bregenz: Vorarlberger Landesbibliothek.
Gabriel, Eugen (1991): Wortgeographie I. Einleitung, Romanische Reliktwörter. Kommentar zu den Karten 1 - 67 von VALTS IV. Bregenz: Vorarlberger Landesbibliothek.
Krefeld, Thomas (1993): "Reliktwort und Arealdistribution: Einige exemplarische Fälle aus dem Gebiet des Vorarlberger Sprachatlas' ". Montfort 45, 33-47.
Klausmann, Hubert/ Krefeld, Thomas (1986): "Romanische und rätoromanische Reliktwörter im Arlberggebiet." In: Raetia antiqua et moderna. W.Theodor Elwert zum 80. Geb., Holtus, G./Ringger, K. (Hrsg). Tübingen: Niemeyer, 121-145.