1. Einleitung
2. Romania alpina und Rätoromanisch
3. Romanische Appellative
3.1 Allgemeine Bemerkungen
3.2 Romanische Appellative aus der Milchverarbeitung 6
3.2.1 Bezeichnungen für den „Drehgalgen für den Sennkessel“ (vgl. VALTS IV, Karte 34)
3.2.2 Bezeichnungen für die „Käsemasse der 1. Scheidung“ (vgl. VALTS IV, Karte 35)
3.2.3 Bezeichnungen für die „Molke“ (vgl. VALTS IV, Karte 36)
3.2.4 Bezeichnungen für das „Formgefäß für Zieger und Käse“ (vgl. VALTS IV, Karte 39)
3.2.5 Bezeichnungen für den „Rückstand beim Auslassen von Butter“ (vgl. VALTS IV, Karte 41)
4. Schluss
5. Bibliographie
1. 1. Einleitung
In vorrömischer Zeit siedelten die Räter und Vindeliker in den Alpen, im Alpenvorland, in Bayern und Oberschwaben. Zur Zeit der römischen Expansion unter Kaiser Augustus unternahmen dessen Adoptivsöhne Drusus und Tiberius im Jahre 15. v. Chr. einen Feldzug und besiegten die dort ansässigen Stämme. Die von den Römern unterworfenen Stämme wurden daraufhin in das römische Reich eingegliedert und die Region wurde wohl schon um das Jahr 20 n. Chr. zu einer römischen Provinz. Daraufhin setzte eine Entwicklung von Siedlungen in Bregenz, Kempten, Epfach, Schwabmünchen und am Augsburger Kastell ein. Der Verwaltungssitz der Provinz Raetia lag in Augsburg (vgl. Klausmann/ Krefeld 1997: 55). Gleichzeitig fand eine Romanisierung der ursprünglich ansässigen Bevölkerung in den Bereichen der Sprache und Kultur statt. So wurde Latein die offizielle Verwaltungssprache, auch römische Götter wurden verehrt, sowohl der römische Kaiserkult als auch das Christentum fanden Einzug im Alpengebiet. Zu Beginn des 3. Jahrhunderts n. Chr. sind alemannische Einfälle in das Gebiet zu beobachten und im Jahr 259/60 fällt der römische Limes endgültig. Erst unter Kaiser Probus im Jahr 277 n. Chr. gelang es, die nördliche Grenze des römischen Reiches mit dem Donau-Iller-Rhein-Limes wieder zu sichern (vgl. Gabriel 1991b: 24). Daraufhin entstehen einerseits Burgi und Kastelle zur militärischen Absicherung des neuen Limes und anderer-seits auch Höhensiedlungen, die erst nur als Zufluchtsorte dienten sollten, sich aber schnell zu fest bewohnten Anlagen entwickelten. Mit der Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. drangen die Alemannen immer weiter in die Provinz Raetia ein und ließen sich dort nieder, bis dann in der Mitte des 6. Jahrhunderts das Alpenvorland und auch die allgäuischen Täler besiedelt waren (vgl. Klausmann/ Krefeld 1997: 56). Bis in diese Zeit hinein wurde ein einheitliches Regionallatein gesprochen, welches dann aber mit dem Einfall der Bajuwaren, Langobarden und Slawen immer weiter verdrängt wurde (vgl. Krefeld 1993: 34). Erst im 16. Jh. n. Chr. war schließlich das Montafon in Vorarlberg und die Täler westlich von Landeck und das obere Vintschgau vollständig germanisiert; für Samnaun in Graubünden kann noch bis Ende des 19. Jhs. Zweisprachigkeit belegt werden (vgl. Klausmann/ Krefeld 1986: 121-122). Im gesamten Gebiet finden sich viele römische bzw. romanische Sprachrelikte, wie Orts- und Gewässernamen [1] und Appellative, die auf eine Phase der Zweisprachigkeit zurückführen (vgl. Klausmann/ Krefeld 1997: 56-57).
Die vorliegende Arbeit behandelt die romanischen Appellative im deutschsprachigen Alpenraum und Alpenvorland, wobei das Salzburger Becken hier nicht mit eingeschlossen wird [2]. Im zweiten Kapitel geht es zunächst um den vieldiskutierten Status des Rätoromanischen. Im darauffolgenden Kapitel geht es zunächst um die Definition des Begriffs Reliktwort. Im Anschluss daran werden Appellative aus dem Bereich der Milchverarbeitung im VALTS-Gebiet (Vorarlberg-Allgäu-Liechtenstein-Tirol-Schweiz) besprochen, um dann in einem praktischen Teil mit Hilfe von Google maps eine georeferenzierte Darstellung zu erarbeiten. Im Schlussteil werden dann noch einmal die wichtigsten Punkte zusammenfassend dargestellt.
2. 2. Romania alpina und Rätoromanisch
In der questione ladina wird der Status des Rätoromanischen eingehend und kontrovers diskutiert. Im Zentrum steht hierbei die Frage, ob die drei verwandten, aber heterogenen Mundarten Bündnerromanisch, Friaulisch und Dolomitenladinisch unter dem Begriff des Rätoromanischen zusammengefasst werden können oder nicht. Rätoromanisch ist sozusagen ein Konstrukt, das als Etikett für Dialekte dient, die sich ähneln (vgl. Krefeld 1994: 261). Doch ist der Begriff des Rätoromanischen mehrdeutig. Zum einen bezeichnet er die oben genannten Dialekte Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friaulisch, wobei er allerdings vor allem in der Schweiz nur im Sinne von „Bündnerromanisch“ gebraucht wird. Zum anderen stellt sich das Problem, dass, wenn der Begriff auf den Namen einer römischen Provinz Bezug nimmt, eine gemeinsame Geschichte unterstellt wird. Zu römischer Zeit waren die Zentral- und Ostalpen die Provinzen Raetia, Noricum und Venetia. Die Provinz Venetia war schon seit dem 2. Jh. v. Chr. Teil des römischen Reichs und dementsprechend auch schon sehr früh und flächendeckend romanisiert. Die Provinzen Raetia und Noricum erlebten die Romanisierung im Gegegnsatz dazu erst später und weniger flächendeckend. Des Weiteren kommt hinzu, dass in der Raetia nicht zwingend ein einheitliches ethnisches und sprachliches Substrat existierte. Es besteht auch die Möglichkeit, dass zur Zeit der Römer der Begriff der Raetii sprachlich und ethnisch verschiedene Stämme zusammenfasst (vgl. Krefeld 1993: 33-34). Nun möchte ich auf die sprachlichen Gemeinsamkeiten eingehen. Wie bereits in Kapitel 1 erwähnt, lag bis ins 6. Jahrhundert ein einheitliches Regionallatein vor, bis dann die Bajuwaren aus nördlicher, die Langobarden aus südlicher und die Slawen aus östlicher Richtung einfallen. Bis zum 11. Jh. ist es nicht möglich, charakteristische, phonetische Eigenschaften des Rätoromanischen zu belegen (vgl. ebd.: 34). Es gibt aber Merkmale, die in den Mundarten des Alpenraums zu finden sind, wie das Beibehalten des auslautenden lat. -s zur Pluralbildung, genauso wie im Französischen und Spanischen (vgl. Schürr 1963: 118-120). Auch die neue Entwicklung der palatalen Lautgruppe ca > ćá und die Palatalisierung von a > e kann im gesamten Gebiet beobachtet werden. Nur reichen diese Eigenschaften nicht aus, um von dem Rätoromanischen als solches zu sprechen. Dies bedeutet, dass die Phonetik bei der Herausarbeitung von romanischen Sprachgebieten im Alpenraum keine große Hilfe ist, sondern, dass man vor allem mit der Wortgeographie arbeiten muss. Hierbei stehen im Vordergrund die Reliktwörter (vgl. Krefeld 1993: 34).
3. 3. Romanische Appellative
3.1. 3.1 Allgemeine Bemerkungen
Zunächst möchte ich den Begriff Reliktwort bestimmen. Reliktwörter sind sprachge-ographisch definiert, d.h. „(…) es sind Wörter mit einer kontinuierlichen, den Sprachwechsel der ansässigen Bevölkerung überdauernden Arealdistribution“ (Krefeld 1993: 34).
Doch warum sind Reliktwörter hier von so großer Bedeutung? Zum einen sind sie Relikte einer nicht mehr gesprochenen Sprache und zeugen gleichzeitig von einer Phase der Zweisprachigkeit, was heißt, dass ein Sprachwechsel noch nicht endgültig vollzogen wurde, sondern zwei Sprachen nebeneinander existierten. Zum anderen manifestieren Reliktwörter eine kulturelle, lebensweltliche Kontinuität. Wenn sie in hoher Frequenz auftreten, kann man von einem Sprachwechsel sprechen, der aber keinen Bruch innerhalb der Kulturgeschichte nach sich zieht (vgl. ebd.: 35-36).
Im VALTS-Gebiet stammen viele von den Romanen übernommene Wörter einerseits aus dem Bereich des alpinen Lebensraums, so zum Beispiel Begriffe, die Geländeinformationen bezeichnen, wie Tobel ‘steile Waldschlucht’, Gande/ Lamer ‘Geröllhalde’, Rüfi ‘Erdrutsch’, etc. Des Weiteren finden sich viele Begriffe, die sich auf das Wetter beziehen, z.B. Brente ‘Talnebel’, bischen ‘stürmisch schneien’ oder Gäferle ‘dünne Neuschneeauflage’. Auch aus dem Bereich der Pflanzen und Tiere wurden im VALTS-Gebiet viele Wörter von dem Romanen übernommen, so zum Beispiel Quatterpätsch (und Synonyme hierzu) ‘Alpensalamander’, Frosel ‘Hagebutte’ oder Pfetschen ‘junge Tannen’. Andererseits gehören viele Reliktwörter der Almwirtschaft an. Hier finden sich Begriffe aus der Viehhaltung, wie Tschungle ‘Jochriemen’, Pulle/ Pullätlein ‘junge Henne’ oder glutschen ‘Stimme der Hühner beim Brüten’. Aus dem Bereich des Heuen sind Wörter, wie Are ‘Faßplatz für die Winterheuburden’ oder Strützete ‘Heureste, die auf der Wiese zurückbleiben’ als Beispiele romanischer Reliktwörter anzuführen. Innerhalb des Bereiches der Almwirtschaft ist vor allem ein Teilbereich von großem Interesse: die Milchverarbeitung. Diese spielte im Leben der damaligen Alpenbevölkerung eine große Rolle, da sie den Lebensunterhalt sicherte. Sie war perfekt an die doch eher schwierige Umge-bung angepasst und war im Bereich der Alpwirtschaft technisch weit fortgeschritten. So verwundert es nicht, dass die Alemannen und Baiern hier nicht nur die Techniken, sondern auch sehr viele Wörter der Romanen übernommen haben (vgl. ebd.: 36-37). Darauf werde ich im Folgenden Teil nun genauer eingehen und Beispiele aus dem Bereich der Milchverarbeitung besprechen.
3.2. 3.2 Romanische Appellative aus der Milchverarbeitung
In dem nun vorliegenden Teil der Arbeit möchte ich fünf Begriffe aus der Milchver-arbeitung und ihre jeweils zugehörigen unterschiedlichen, romanischen Ausdrücke im VALTS-Gebiet vorstellen.
3.2.1. 3.2.1 Bezeichnungen für den „Drehgalgen für den Sennkessel“ (vgl. VALTS IV, Karte 34)
Im VALTS-Gebiet finden sich unterschiedliche Bezeichnungen für den „Drehgalgen für den Sennkessel“ [3]:
a) Kessi-Turn
b) Kessi-Türner
c) Tschengel
Kessi-Turn kommt von lat. tornāre ‘drehen’, von welchem lat. tornus ‘Dreheisen zum Drechseln’ abgeleitet werden kann. Kessi-Turn findet sich in Graubünden, St. Gallen, Liechtenstein und in Vorarlberg. Es ist eine charakteristische Bezeichnung der Walser [4], welche über das Prättigau nach Liechtenstein und Vorarlberg kam. Durch die Walser wurde sie auch im Montafon und in Brand (Vorarlberg) bekannt. Auch in Liechtenstein konnte es an zwei Orten belegt werden. Turn, -ua-, etc. sind im westlichen Oberitalien und Bündnerromanischen am häufigsten belegt und kamen über das Prättigau nach Liechtenstein und nach Vorarlberg.
Kessi-Türner ist eine Weiterbildung von Turn. Diese Bezeichnung für den Drehgalgen des Sennkessels findet sich zweimal im Liechtensteiner Oberland in Triesen und Balzers und zweimal in Vorarlberg in Übersaxen und in Schnifis. Am hufigsten ist sie im Bündner Rheintal belegt.
Tschengel konnte nur an zwei Orten im oberen Lechtal Tirols belegt werden, nämlich in Bach und in Steeg. Das bedeutet, dass Tschengel sehr isoliert dasteht (vgl. Krefeld 1993: 40). Es muss romanischen Ursprungs sein, denn anlautendes tʃ- gibt es im alten Lautstand des Deutschen nicht. Vermutlich kann der Ausdruck auf lat. cicōnia ‘Storch’ bzw. auf den Diminutiv ciconiola zurückgeführt werden. Die weitere mögliche Entwicklung sieht folgendermaßen aus: aus surv. ćeña wurde dt. tʃeɮ- und dann durch das Suffix -el erweitert wurde, welches im Deutschen zur Bildung von Bezeichnungen für Geräte benutzt wird (vgl. Gabriel 1991: 182-184). Laut Gabriel (1991: 184) ist die Übertragung von Tiernamen auf Werkzeuge oft zu beobachten und muss in dem vorliegenden Fall schon früh stattgefunden haben. Die metaphorische Verwendung für diese Gerätschaft kann nur auf das Regionallatein zurückgehen, da es in Graubünden und im Lechtal keine Störche gab (vgl. Krefeld 1993: 40).
3.2.2. 3.2.2 Bezeichnungen für die „Käsemasse der 1. Scheidung“ (vgl. VALTS IV, Karte 35)
Im gesamten VALTS-Gebiet konnten mehrere Bezeichnungen romanischen Ursprungs für die „Käsemasse der 1. Scheidung“ belegt werden.
a) Schotten
b) Tschotten
c) Press(e), Spress
d) Polmen, Pulle, Pulder(e)
e) Britschger
Schotten kann von lat. excocta ‘herausgekochte Substanz’ hergeleitet werde. Das lat. anlautenden exc(octa) wird zu einem stimmhaften s-, das e- im Anlaut ist also abgefallen. Die Lautfolge -kʃk- wurde zu -sk- und dann zu s. Dies ist im Bairischen etwa um das Jahr 1100 n. Chr. zu beobachten (vgl.Gabriel 1991: 195). Dieses Reliktwort gehört zur ältesten Schicht der obit. Lehnwörter und findet sich in Tirol. Interessant ist, dass Schotten in Tirol Spress ersetzt und unter dem Einfluss von Spress bei Schotten ein Genuswechsel von feminin zu maskulin erfolgte (vgl. Krefeld 1993: 40).
Das tʃ- in Tschotten ist ein festgewordener Gleitlaut, welcher dann erzeugt wird, wenn das Wort mit unbestimmten Artikeln gebraucht wird. Diese Variante findet sich in Südtirol in Moos, San Martino, Riffian, Partschins und Lana.
Press(e) kommt von lat. pressu. Diese Bezeichnung gibt es in Westtirol. Die Variante Spress, welche in Oberitalien zu finden ist, geht auf lat. expressu ‘geronnen, gebrochen’ zurück. In der weiteren Entwicklung fiel das anlautende e- ab und die Lautfolge (e)kʃp- wurde zu spr-.
Polmen, Pulle und Pulder(e) sind aufgrund der vorliegenden örtlichen Verteilung als zusammengehörig zu betrachten. Im mittleren und nördlichen Vorarlberg wird die Käsemasse als Käse oder Käsefisch bezeichnet, wohingehen man südlich von Feldkirch, also im Vorarlberg, in Liechtenstein, in St. Gallen und Graubünden, die eben genannten Formen vorfindet (vgl. Klausmann/ Krefeld 1995: 8). Polmen geht auf mittelbündn. puélna zurück, welches sehr nah an dem im Prättigau belegten Pulme ist. Polmen findet sich in Vorarlberg vor allem im Montafon in den Orten Gaschurn, Gortipohl, St. Gallenkirch, Tschagguns, Silbertal, Bartholomäberg, Vandans, St. Anton im Montafon. Ein Beleg liegt für St. Antönien in Graubünden vor. In der weiteren Entwicklung ist bei *PULNA eine Umstellung von -ln- > -nl- zu beobachten, sodass man schließlich zu der Form Pulle kommt. Diese ist vor allem in Vorarlberg und in Graubünden belegt. Pulder(e) kann mit der in der Südschweiz belegten Form <Bullere> erklärt werden, welche eine Kollektivbildung ist. Der Ausdruck Pulder(e) ist in Graubünden, Liechtenstein und St. Gallen anzutreffen (vgl. Gabriel 1991: 195-196).
Britschger ist ein typisches Walserwort, welches seinen Ursprung im altromanischen *BRISCARE hat. Daran schließt das gall. *BRISCO ‘brüchig’ an. So kommt man zu dem frankoprovenzalischen brètse/ brètsɘ. Das eingeschobene -k- ist ein häufiger Typ der Wortbildung im Alemannischen. (vgl. Gabriel 1991: 195). Britschger konnte in Vorarlberg in Riezlern und Mittelberg erhoben werden.
3.2.3. 3.2.3 Bezeichnungen für die „Molke“ (vgl. VALTS IV, Karte 36)
Im Untersuchungsgebiet konnten mehrere romanische Reliktwörter zur Bezeich-nung der Molke gefunden werden:
a) Schotten
b) Schruu, Schruung
c) Tschette
d) Jutte
e) Sirmete
Zunächst zu Schotten. Schotten beschreibt nicht nur wie in Kap. 3.2.2 beschrieben, die Käsemasse, sondern auch die Flüssigkeit, die dann übrigbleibt. Hierbei ist zu beachten, dass Schotten an manchen Orten das Käsewasser der 1. und 2. Scheidung beschreibt, an anderen nur für das Käsewasser der 2. Scheidung benutzt wird. Belegt werden kann es in Liechtenstein, Vorarlberg, Graubünden, Westtirol und im nordwestlichen Bodenseegebiet.
Schruu/ Schruung bezeichnen das Käsewasser der 1. Scheidung und sind nur unterschiedliche Ausspracheweisen, die auf lat. *SERONEM ‘Käsewasser’ zurückgehen. Zu finden sind sie in St. Gallen und in Graubünden.
Tschette als Bezeichnung für die Molke konnte nur in den Gemeinden Nauders und Graun in Tirol belegt werden. Die Herkunft dieses Begriffs ist ungeklärt. Er könnte eine Mischform aus Schotten und Tschett ‘künstlicher Wasserteich’ sein.
Jutte ist aus dem lat. iutta,-ae ‘Brühe’ entlehnt, welches wiederum auf gall. jutta zurückgeht. Belege sind an vier Orten in Westtirol anzutreffen: in Kematen, Zirl, Hatting und Gries.
Sirmete wird in Furna in Graubünden als Synonym zu Schotten für die Bezeichnung des Käsewassers der 1. Scheidung benutzt. Dies ist der einzige Beleg für das gesamte VALTS-Gebiet. Man nimmt an, dass Sirmete eine Verbindung von serum und pulmentu ist. Das engad. pulmaint und das surs. purment bedeuten ‘Molken, Milcherzeugnisse’ (vgl. Gabriel 1991: 201-202).
3.2.4. 3.2.4 Bezeichnungen für das „Formgefäß für Zieger und Käse“ (vgl. VALTS IV, Karte 39)
Im VALTS-Gebiet finden sich auch für das „Formgefäß für Zieger und Käse“ verschiedene, romanische Reliktwörter:
a) Skap
b) Järb
c) Ruschge
d) Rüschge
e) Bise
Ein Skab ist ein rundes oder viereckiges Gefäß aus Holz, dessen Boden und Wände durchlöchert sind und zum Formen von Zieger und Käse genutzt wurde. Es geht zurück auf surs. scap und findet sich in Graubünden.
Järb ‘Käsereif’ konnte in St. Gallen in den Orten Oberriet und Pfäfers ausgemacht werden. Es ist ein Walserwort, welches von Westen kam (vgl. frankoprov. dzérbèlu ‘geflochtener Behälter’). Für die Herleitung gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens könnte man von einem vorrömischen Etymon *KARABO- ausgehen oder zweitens von *KARB- > kxarb ‘hölzerner Schellriemen, seitlich gebogene Holzteile beim Joch’. Die Herkunft könnte auch über altfrkp. *garb > dzerb erklärt werden, denn das anlautende i- spiegelt eine ältere Stufe der romanischen Entwicklung g > z wider (vgl. Gabriel 1991: 217, 219-220).
Die Ruschge/ Rüschge bezeichnet ein Holzfaß, in dem Käse sowohl geformt als auch aufbewahrt wird. Es steht neben bndrom. ris(l)a ‘Käsereif, Holzreif’. Ursprünglich wurde die Ruschge/ Rüschge aus Baumrinde gefertigt. So lässt sich erklären, dass das bndrom. ris(l)a auf gall. RUSCA ‘Baumrinde’ zurückzuführen ist. Gall. RUSCA findet sich in der Romania von Aragon bis Katalonien und in der Galloromania bis in Oberitalien (vgl. Klausmann/ Krefeld 1986: 126). Die Variante Ruschge konnte im VALTS-Gebiet im österreichischen Vorarlberg in Mittelberg und Riezlern ermittelt werden, in Fraxern wurde die Variante Rutsche genannt. Rüschge ist eine Variante mit palatalisiertem -u- (vgl. rüsca im Val Müstair, Graubünden). Belege gibt es nur in Tirol: in Serfaus, St. Anton, Pettneu, Strengen und Ischgl.
Das Bise ist eine kistenähnliche Konstruktion, welche etwa 2 Meter hoch, 1 Meter breit und 1 Meter tief ist. Verbreitung findet es im Vorarlberg. Aufgrund fehlender Entsprechungen im Bündnerromanischen ist es etwas schwierig, dessen romanische Herkunft nachzuverfolgen. Es besteht aber die Möglichkeit, dass es zu bndrom. pisar ‘zerstampfen’ < vlat. PINSARE ‘zerstampfen’ zuzuordnen ist. Untermauert wird diese Argumentation damit, dass man im Okzitanischen und Frankoprovenzalischen viele Wörter findet, die zur selben Wortgruppe gehören, z.B. okz. pizo ‘Trog’, frankprov. piz(e) ‘Stampfgefäß für Nüsse’. Auch bndrom. pizada ‘Butter’ kann über *PINSIARE hergeleitet werden. Somit wird deutlich, dass diese Wortfamilie zur Milchwirtschaft gehört und Bise ein romanisches Reliktwort sein muss (vgl. Gabriel 1991: 217-219).
3.2.5. 3.2.5 Bezeichnungen für den „Rückstand beim Auslassen von Butter“ (vgl. VALTS IV, Karte 41)
Im VALTS-Gebiet gibt es für den „Rückstand beim Auslassen von Butter“ unterschiedliche Bezeichnung, deren Herkunft romanischer Art ist:
a) Fäule/ Flane bzw. Föle
b) Wätzlet(e), Wätzel
c) Nidel
Fäule, Flane und Föle stammen alle von lat. VETULUS ab, welcher der gemeinromanische Diminutiv zu lat. VETUS ‘alt’ ist. Dem Paar Flane/ Fäule steht im Bündnerromanischen eine Dublette gegenüber, nämlich obengad. veglianas, viglianas/ surm. vigliangs vs. oberengad. veglias. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen lassen sich folgendermaßen erklären: Der Begriff Fäule geht auf eine alte romanische Schicht *veglias zurück, welche als Ausgangspunkt für surs. vilieuls und mittelbündn.-obengad. viliangs, viglianas dient. Flane repräsentiert die Schicht veglianas, welche für Mittelbünden und Oberengadin belegt ist. Föle knüpft an eine jüngere romanische Schicht an, zu der auch uengad. veglias zählt. Fäule ist in Vorarlberg bis zum Arlberg und in der Schweiz ab Sennwald bis zum Walensee in St. Gallen und bis Thusis in Graubünden gebräuchlich (vgl. Gabriel 1991: 230-232). Die weiträumige Arealdistribution wurde schon von Rudolf Hotzenköcherle (1961) für die Schweiz dargestellt. Er erklärt dies mit der Geschichte des Gebietes, denn das Gebiet um Chur entsprach der Raetia prima, welches zu fränkischer Zeit sowohl in administrativer als auch sprachlicher Hinsicht autonom war (vgl. Hotzenköcherle 1961: 224-225). Flane ist vor allem in Tirol belegt. Sein Verbreitungsgebiet geht im Norden bis zur alemannisch-bairischen Mundartgrenze zwischen Stanzach und Weißenbach und im Westen bis Roppen (vgl. Gabriel 1991: 231). Ein Beleg findet sich für Graubünden in Samnaun (vgl. VALTS IV, Karte 41). Föle hingegen ist nur wenig verbreitet. Es findet sich an vier Orten im Vintschgau (Südtirol): in Graun, Burgeis, Schluderns und Schlanders.
Wätzel/ Wätzlet(e) gehen als Reflex auf lat. *VETUS LACTE(M) ‘alte Milch’ zurück. Die weitere Entwicklung ist ungeklärt. Da es aber nicht möglich ist, diese Bezeichnung aus dem Deutschen bzw. Alemannischen abzuleiten, ist es den romanischen Reliktwörtern zuzuordnen. Wätzel, welches das Genus maskulin hat, ist nur in drei Orten im Vorarlberg bekannt: in Sulzberg, Langen und Doren. Wätzlet(e) mit femininem Genus hingegegen tritt viel häufiger im Bodensee- und Vorderwald-Gebiet auf.
Der Begriff Nidel konnte im VALTS-Gebiet zwar nur an drei Orten in Vorarlberg an der Grenze zu St. Gallen belegt werden, es ist aber in der gesamten Schweiz in der Bedeutung von ‘Rahmschicht auf der (un)gekochten Milch’ verbreitet. Dem Begriff Nidel kann zlad. nida ‘Buttermilch’ zugeordnet werden. Dieses wiederum geht auf gall. *NITA ‘Tuch’ bzw. spätgall. *NIDLO ‘Tuch’ zurück. Hier liegt eine metaphorische Verwendung von ‘Decke’ für ’Rahmschicht’ vor. Interessanterweise kann für Nidel in Vorarlberg eine Bedeutungsveränderung von ‘Rahmschicht’ zu ‘Rückstand beim Auslassen von Butter’ beobachtet werden, welche sich ganz einfach damit erklärt, dass beide in der Milchverarbeitung abgeschöpft werden müssen (vgl. Gabriel 1991: 232-234).
4. 4. Schluss
Die vorliegende Arbeit hat zunächst einen geschichtlichen Abriss der Alpen und des Alpenvorlandes gegeben, denn nur mit Blick auf die Geschichte kann erklärt werden, dass heutzutage in dieser Region noch so viele Wörter romanischen Ursprungs in der deutschen Sprache fortleben. Allerdings musste zunächst der Status des Rätoromanischen diskutiert werden, welches in der Sprachwissenschaft mit der questione ladina ein Dauerbrenner ist. Rätoromanisch fasst die drei Mundarten Bündnerromanisch, Friaulisch und Dolomitenladinisch zusammen, welche sich aber voneinander unterscheiden. So gibt es zwar einige spezifische Merkmale in den Mundarten, man kann aber nicht von einer Sprache, nämlich Rätoromanisch, sprechen. So kommt der Wortgeographie eine entscheidende Rolle im Untersuchungsgebiet, dem VALTS-Gebiet, zu. Ganz besonders wichtig sind hier die Reliktwörter romanischen Ursprungs, denn mit ihrer Hilfe lässt sich die damalige sprachli-che und auch kulturelle Situation nachzeichnen. In ihnen manifestieren sich nicht nur Reste einer nicht mehr gesprochenen Sprache, sondern ihr Auftreten zeigt auch, dass einerseits eine Phase der Zweisprachigkeit existierte und dass sich an-dererseits der Sprachwechsel so vollzieht, ohne dass mit ihm ein kultureller Bruch einhergeht. Anhand des Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluß des Fürstentums Liechtenstein, Westtirols und des Allgäus (Band IV) von Gabriel Eugen (1991) wurden dann romanische Reliktwörter aus dem Bereich der Milchverarbeitung besprochen. Aus diesem Bereich finden sich zahlreiche Belege für romanische Relikte für das gesamte VALTS-Gebiet. Allerdings ist die Herleitung aus dem Romanischen manchmal schwierig, wie etwa an den Beispielen Sirmete (Bezeichnung für die Molke), Tschette (ebenfalls eine Bezeichnung für die Molke), Järb und Bise (Bezeichnungen für das Formgefäß für Zieger und Käse) oder Wätzlet(e)/ Wätzel (Bezeichnung für den Rückstand beim Auslassen von Butter) zu sehen ist.
[1] Zu Gewässernamen vgl. Greule (1985), Greule (2014), Krahe (1964); zu Ortsnamen vgl. Greule (1996), (2007), (2015).
[2] Zu Namen und Appellativa im Salzburger Becken vgl. Reiffenstein (1955), Reiffenstein/ Ziller (1982).
[3] Der Drehgalgen ist eine kranähnliche Vorrichtung, an dem der Sennkessel aufgehängt wird, um ihn dann seitlich abschwenken zu können (vgl. Krefeld 1993: 40).
[4] Die Walser sind ein alemannisches Volk, welches am Ende des 12. Jhs./ Anfang des 13. Jhs. vom Schweizer Oberwallis ins Berner Oberland, nach Italien und nach Graubünden gezogen ist. Der erste Wanderzug verlief in östlicher Richtung über die Pässe Furka und Oberalp bis nach Obersaxen, der zweite führte sie nach Pomatt in Italien und von dort ins Rheinwaldgebiet, der dritte endete im Gebiet um Davos, von wo aus Höhenlagen im Vorarlberg und Liechtenstein von den ihnen besiedelt wurden (vgl. Klausmann/Krefeld 1995: 3-4). Hauptmerkmal der Sprache der Walser ist der sch-Laut, z.B. in ünsch/insch ‘uns’. Mit den Walsern konnten sich Wörter aus dem Frankoprovenzalischen bis an den Arlberg und ins Panznautal (Tirol) verbreiten (vgl. ebd. 1986: 122).
5. 5. Bibliographie
Gabriel, Eugen (1991): Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluß des Fürstentums Liechtenstein, Westtirols und des Allgäus. Band IV: Wortgeographie I, Nord/Süd- (deutsch-romanischer), West/Ost- (alemannisch-bairischer) Gegensatz. Bregenz: Vorarlberger Landesbibliothek.
Gabriel, Eugen (1991): Wortgeographie I. Einleitung, Romanische Reliktwörter. Kommentar zu den Karten 1 - 67 von VALTS IV. Bregenz: Vorarlberger Landesbibliothek.
Greule, Albrecht (21985): „Überblick über Geschichte und Typen der deutschen Gewässernamen“. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Werner Besch, Anne Betten,Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger (Hrsg.), 4. Teilband. Berlin: De Gruyter, 3530-3535.
Greule, Albrecht (1996): „Römisch-germanische Namenkontinuität in Bayern.“ Namen-kundliche Informationen 69, 42-61.
Greule, Albrecht (2007): „Herkunft und Bedeutung der Ortsnamen“. Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 70, 613-620.
Greule, Albrecht (2014): Deutsches Gewässernamenbuch. Etymologie der Gewässernamen und der dazugehörigen Gebiets-, Siedlungs- und Flurnamen. Berlin/ Boston: De Gruyter.
Greule, Albrecht (2015): Die romanischen Ortsnamen in Bayern. http://epub.uni-regensburg.de/3139/1/Katalog%20der%20romanischen%20Ortsnamen%20in%20Bayern.pdf.
Hotzenköcherle, Rudolf (1961): „Zur Raumstruktur des Schweizerdeutschen.“ Zeit-
schrift für Mundartforschung 28, 207-227.
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Klausmann, Hubert/ Krefeld, Thomas (1995): „Zwischen Isolation und Sprachkontakt: Der romanische Wortschatz der Vorarlberger Walser“. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 62, 1-28.
Klausmann, Hubert/ Krefeld, Thomas: (1997): „Sprachliche Indizien einer spätantikmittelalterlichen Siedlungskontinuität im Allgäu.“ Montfort 49,1. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs, 55-71.
Krefeld, Thomas (1993): „Reliktwort und Arealdistribution: Einige exemplarische Fälle aus dem Gebiet des Vorarlberger Sprachatlas' “. Montfort 45, 33-47.
Krefeld, Thomas (1994): „Der surselvische Wortschatz, die questione ladina und die quantitative Arealtypologie." Ladinia. Sföi culturâl dai ladins dles dolomites 18, 261-288.
Krahe, Hans (1964): Unsere ältesten Flussnamen. Wiesbaden: Harrassowitz.
Reiffenstein, Ingo (1955): Salzburgische Dialektologie. Die südmittelbairischen Mundarten zwischen Inn und Enns. Giessen: Wilhelm Schmitz Verlag.
Reiffenstein, Ingo/ Ziller, Leopold (1982): Salzburger Ortsnamenbuch. Salzburg: Gesellschaft für Salzburger Landeskunde.
Schürr, Friedrich (1963): „Die Alpenromanen.“ Vox Romanica 22, 100-126.
HausarbeitROM-RÖM (pdf)