1. Die Themenfelder
Der AIS war bemüht, einen breiten Ausschnitt der Alltagswelt seiner Informanten zu erfassen; trotzdem wurde natürlich eine Auswahl getroffen, die aus der folgenden, nach Bänden geordneten Übersicht der dokumentierten Themenfelder hervorgeht:
- CARTE TOPONOMASTCHE, PARENTELA, ETÀ, AMORE / NASCITA / MATRIMONIO e MORTE, NOMI DI BATTESIMO, LE PARTI DEL CORPO, FUNZIONI DEL CORPO, QUALITÀ E DIFFETI FISICI
- MESTIERI ED ARNESI, IL COMMERCIO, NUMERI, TEMPO E SPAZIO, CORPI CELESTI, FENOMENI ATMOSFERICI
- MINERALI, CONFIGURAZIONE DEL SUOLO ED ACQUE, ANIMALI, CACCIA E PESCA, SILVICULTURA ED ARNESI DELLO SPACCALEGNA, PIANTE
- RIPOSO E TOELETTA, MALATTIE E GUARIGIONE, DIFETTI / QUALITÀ MORALI E SENTIMENTI, VITA RELIGIOSA E SOCIALE
- CASA E MASSERIZIE, CIBI, MANGIARE E BERE
- ALLEVAMENTO DEL BESTIAME, APICOLTURA, BACHICOLTURA, PASCOLO E ALPEGGIO, CARRO GIOGO E FINIMENTI
- GLI ALBERI FRUTTIFERI E I FRUTTI, LA VITICOLTURA E LA VINIFICAZIONE, LA FABBRICAZIONE DELL'OLIO, L'ORTO E IL GIARDINO / ERBAGGI E LEGUMI, LA COLTIVAZIONE DELLE PATATE, LA FIENAGIONE, GLI ARNESI DEL FALCIATORE, IL PRATO E IL CAMPO, L'IRRIGAZIONE E IL CAMPO, I CEREALI E LA LORO COLTIVAZIONE, LA TREBBIATURA, LA MONDATURA E LA CONSERVAZIONE DEL GRANO
- PANIERI, LAVORAZIONE DELLA CANAPA E DEL LINO, FILATURA E TESSITURA, BUCATO, CUCITURA, VESTIMENTO E CALZATURA, AGGETTIVI, FRASI: BRANI DI CONVERSAZIONE, TAVOLE DELLA CONIUGAZIONE
1.1. Ethnographische Selektivität: Bäuerliche Lebenswelt
Die erfassten Themenbereiche sind weitestgehend im Bereich der bäuerlichen Lebenswelt angesiedelt:
"Unser Fragebuch ist auf ländliche Verhältnisse zugeschnitten. So ergab es sich von selbst, dass als Auskunftgeber vor allem Bauern gewählt werden mussten, Leute, die wenigstens ein bisschen Landwirtschaft getrieben haben mussten oder solche, die mit den bäurischen Verhältnissen vertraut waren." (Jaberg & Jud 1928, 190)
Dieser Bereich wird mit bewundernswerter Genauigkeit beschrieben; die damit vorgegebene thematische Bindung führt allerdings dazu, dass ein anderer, für die traditionelle Lebenswelt Italiens genauso wichtiger, komplementärer Bereich praktisch vollkommen ausgeschlossen wird: die Seefahrt und Fischerei (vgl. aber zu Sizilien Fanciullo 1983). Das heutige Italien hat - von den zahlreichen Binnenseen ganz zu schweigen - eine Küstenlänge von 7600 km (im Verhältnis zu 1836,4 km Landgrenzen). Gerade die Seefahrt ist für die Geschichte des italienischen Kommunikationsraums und speziell für die Verbreitung und Entwicklung der zugehörigen sprachlichen Varietäten von grundlegender Bedeutung (vgl. Krefeld 2017, ♦). Da, wie erwähnt, auch die Häfen im Ortsnetz vollkommen unterrepräsentiert sind, werden grundlegende Strukturen des Verkehrs und somit der zugehörigen kommunikativen Dynamik ausgeblendet.
2. Ethnographischer Traditionalismus
2.1. Beispiel ELEKTRIZITÄT
Im Band V wird u.a. die BELEUCHTUNG abgehandelt; dazu wurden die folgenden Bezeichnungen abgefragt:
Die zugehörigen Gegenstände, deren Photos über das AIS-Archiv der Universität Bern zugänglich sind, die in Disentis (Graubünden) am 9.10.1935 erfasst wurden, sahen so aus:
Auf diese Art und Weise wurde eine Alltagswelt dokumentiert, die zum Zeitpunkt ihrer Dokumentation bereits im Untergang begriffen war und weithin - wenngleich nicht überall - wohl bereits der nurmehr erinnerten Sachkultur angehörte. Im Titel von AIS 915 heißt es:
Ein Blick auf die zugehörige Karte zeigt, dass die Bezeichnung der Öllampe in den meisten Orten Oberitaliens und der Südschweiz nicht mehr ermittelt werden konnte, denn es finden sich keine Belege neben den roten Kennziffern der Erhebungsorte:
Dort, wo noch Bezeichnungen belegt sind, entsprechen sie jedoch meist dem Typ lume, d.h. dem Wort für das künstliche Licht schlechthin; die Öllampe erscheint, mit anderen Worten, in diesen Mundarten noch als die normale und selbstverständliche Quelle künstlichen Lichts:
Natürlich war es den Herausgebern und Exploratoren des AIS bewusst, eine Zeit des radikalen alltagsweltlichen Umbruchs zu dokumentieren. Vor allem Paul Scheuermeier hat sich im Zusammenhang mit der Beschreibung der traditionellen Beleuchtungstechnik explizit zur Ausblendung der Elektrizität und konkreten Elektrifizierung geäußert:
"Illuminazione moderna
Non rientra nelle intenzioni dell'autore di illustrare lo sviluppo della moderna tecnica dell'illuminazione. […] Le seguenti informazioni, che tuttavia non sono state ricercate sistematicamente, ma furono registrate solo casualmente da alcuni informatori, possono fornire indicazioni utili circa l'introduzione della luce elettrica. L'illuminazione elettrica è stata introdotta: P. 146: nel 1895 (secondo la testimonianza prima dell'illuminazione elettrica pubblica di Torino); P. 187: negli anni novanta; P 322, 330: 1901; P. 224, 654, 761: verso il 1912; P 637: 1922 (nel paese); P. 740: poco prima del 1930. – Non esisteva ancora la luce elettrica P 393: nel 1921; P. 378: nel 1922; P 189 (presso contadini): nel 1923; P. 564 (presso contadini): nel 1924; P 454: nel 1928; P. 247 (presso contadini): nel 1928; P. 247 (presso contadini): nel 1932. Rilevamenti più precisi avrebbero sicuramente accertato che molte località, e soprattutto molte fattorie sperdute, erano ancora senza illuminazione elettrica nel 1930." (Scheuermeier 1980, 88)
Ohne dies ausdrücklich zu sagen, hat Scheuermeier erkannt, dass die Elektrifizierung von seinen Informanten als bedeutsame Veränderung wahrgenommen wurde. Sie liefert zweifellos einen grundlegenden Indikator, um die relative Modernität | Archaizität der Untersuchungsorte zu taxieren. Wenn man die wenigen, eher zufälligen Daten, die Scheuermeier liefert, kartiert, ergibt sich das folgende Bild:
Wie man sieht, liegen zwischen benachbarten Aufnahmeorten oft mehrere Jahrzehnte (vgl. die beiden Orte in Ligurien östlich von Genua). Im Lichte der digital humanities wäre es wünschenswert, systematisch entsprechende Daten (z.B. zum Ausbau des Eisenbahnnetzes) zu suchen, die geeignet sind, einen Beitrag zur alltagsweltlichen Kontextualisierung der Sprachdaten zu liefern.
2.2. Beispiel TRANSPORT
Manche Kulturtechniken zeigen in Italien, ähnlich wie die Dialekte, komplementäre räumliche Verbreitung. Sehr gut dokumentiert sind die unterschiedlichen Arten des Tragens, nämlich:
- "Con le mani, al braccio o sotto il braccio
- Sulla testa […] diffuso e specifico in tutta la penisola […]
- Su una spalla
- Sul fianco
- Sulla nuca […] assai comune nella zona alpina […]
- Sul dorso" (Scheuermeier 1980, 93-118)
Die dafür verwandten Tragegeräte (Körbe, Säcke, Gestelle, Kissen) sind häufig ortsspezifisch. In einem Ort in der Romagna konstatiert Scheuermeier die Ablösung einer Technik (2) durch eine andere (3):
"S a l u d e c i o (Romagna) P 499: Al pozzo, poss. Le donne portano ancora la brocca dell'acqua, orć, sul capo; le ragazze che non lo sanno più fare, l'appoggiano all'anca." (Scheuermeier 1980, foto)
Beim Tragen auf dem Nacken werden Stirnbänder und Nackenkissen verwandt:
Bemerkenswert ist die sehr spezifische Verbreitung des Tragens auf dem Rücken; sie ist auf den alpinen Raum beschränkt. Zum Einsatz kommen unterschiedliche Tragegeräte, die wiederum regionalspezifisch sind (vgl. die folgende Karte aus Scheuermeier 1980, 2,102):
Vor allem das Rückentragegestell ist auf den Kernbereich der Zentral- und Ostalpen beschränkt. Eine ganz erstaunliche Koinzidenz, bei der man nicht an einen Zufall glauben mag, besteht darin, dass schon die am Hauslabjoch, einem hochalpinen Übergang zwischen dem Vintschgau und dem Ötztal, gefundene, zwischen 3359 und 3105 v. Chr. gestorbene Gletschermumie (der so genannte Ötzi) ein Rückentraggestell bei sich führte - und das genau im Zentrum des neuzeitlichen Verbreitungsgebiets (die ungefähre Fundstelle ist auf der vorhergehenden Karte mit o gekennzeichnet)!
3. Inkonsistenzen
Die ethnographische Perspektive des AIS ist also vollkommen auf die Dokumentation der im Schwinden begriffenen Kulturtechniken und Alltagswelten ausgerichtet; diese Sicht wird von der Überzeugung getragen, die Modernisierung der Alltagswelt führe mehr oder weniger automatisch zur Erosion des Dialekts und zum Übergang zu standardnahen Varietäten (eng. dialect levelling).
Die Gegenprobe, d.h. die Erhebung von Bezeichnungen der modernen Alltagswelt wurde allerdings vom AIS nicht unternommen (und konnte wohl in diesem Rahmen auch nicht unternommen werden; vgl. jetzt den ALIQUOT). Die Entstehung mancher Inkonsistenzen war jedoch unvermeidbar. Sie ergeben sich schon aus der eigentlichen begrüßenswerten Tatsache, dass die Informanten selbst zwar ganz unterschiedliche Alltagswelten repräsentieren, aber dennoch auf der Grundlage ein und desselben Fragebuchs ('Questionnaire' | it. 'questionario') interviewt wurden. Augenfällig wird die Divergenz vor allem im Hinblick auf den Stadt-Land-Gegensatz. So werden die Charakteristika der zur Erhebungszeit hochmodernen Industriestädte im Fragebuch überhaupt nicht abgebildet. Extrem ist der Gegensatz z.B. im Piemont, zwischen der Hauptstadt Torino (= AIS P 155) und dem nach Südosten nächsten Aufnahmeort Cornegliano d'Alba (= AIS 165) oft nur wenige Kilometer liegen.
Um sich die verschiedenen Alltagswelten vorzustellen, reicht es einerseits einen Blick auf den so genannten Lingotto, das hochmoderne FIAT-Werksgebäude aus dem Jahre 1932, zu werfen, Der spektakuläre Industriebau hat sogar eine Teststrecke auf dem Dach des Fertigungsgebäudes.
Andererseits gestattet das AIS-Photoarchiv einen Einblick in noch existierende Wohnverhältnisse in Cornegliano d'Alba (AIS P 165). Photo 779 zeigt die Außen- und Photo 880 die Innenansicht:
Das Photo stammt von Paul Scheuermeier, der den folgenden Kommentar dazu verfasst hat:
Innenansicht einer Wohnung in AIS P 165 Cornegliano (AIS-Archiv, Photo 880)
Der zugehörige Kommentar lautet:
Alle piemontesischen Photos (auch die beiden gezeigten) und die jeweiligen Kommentare in italienischer Übersetzung und im Original wurden durch Sabina Canobbio und Tullio Telmon (2007-2008) in einer sehr schönen und mit ausführlichen Beschreibungen angereicherten Buchausgabe veröffentlicht.
Der Informant aus Cornegliano (der selbst nicht im gezeigten Haus wohnte) wird allerdings sprachlich als durchaus nicht altertümlich beschrieben:
"Bauer, Eltern alteinheimisch. - 39 - Hat immer im Dorfe gelebt. Als Vertreter der jüngeren Generation hat er schon verschiedene sprachliche Merkmal der älteren abgelegt. Sonst sachlich und sprachlich gut ausgewiesen." (Jaberg & Jud 1928, 58)
4. Fazit
Inkonsistenzen der genannten Art sind bei Großprojekten kaum vermeidbar, da sie sie sich oft im Laufe der langfristigen Arbeit in unvorhersehbarer Weise ergeben. Manches wird durch die Autoren selbst reflektiert und auch in Frage gestellt, wie etwa das Prinzip des repräsentativen Einzelinformanten:
"Sehr nützlich wäre natürlich, wenn festgestellt werden könnte, wie weit ein Gewährsmann als vollgültiger Repräsentant seiner Dorfmundart angesehen werden darf. Ein sicheres Urteil darüber vermöchte nur der abzugeben, der Zeit und Gelegenheit hätte, neben der Hauptaufnahme mehrere Kontrollaufnahmen zu machen, Gewährsleute desselben Dorfes zu befragen, die einer anderen Altersstufe und einer anderen sozialen Schicht angehören." (Jaberg & Jud 1928, 183)
An sehr wenigen Punkten wurden in einer zweiten Explorationsphase tatsächlich systematisch zweite Sprecher aufgenommen:
"Um das Material für die größeren Zentren Oberitaliens zu ergänzen, haben wir nachträglich in Turin, Mailand, Venedig und Bologna je eine zweite, vollständige Aufnahme mit Qn ['normales Questionnaire'; ThK] machen lassen, deren Materialien man z.T. schon im I. Band, regelmäßig vom II. Band an auf den Karten eingetragen findet. Florenz wurde von Anfang an doppelt aufgenommen, mit zwei Vertretern der gebildeten und einem solchen der unteren Volksklassen. Nur in Bologna wurde dasselbe Sujet im Abstand von fünf Jahren zweimal abgefragt." (Jaberg & Jud 1928, 176,Anm.1)
Nicht reflektiert wurden alternative Erhebungsmethoden neben dem einzig angewandten Fragebuch.
Sehr geehrter Herr Professor Krefeld,
hier ein Link zu einer frei zugänglichen Prezi-Präsentation, die ganz aktuelle Gegenargumente zu der These anführt, die Sprachvarietäten würden sich mit fortschreitender Modernisierung der Standardsprache angleichen. Auch wenn sie nicht an den AIS oder die italienischen Varietäten angelehnt ist, gibt sie einen guten, interaktiven und mit Quellen hinterlegten Überblick:
https://prezi.com/m/8xtr1j2qkn70/sprachwandel-vs-sprachverfall-sprachvarietaten/