Wenn man nun die drei soeben umrissenen Felder auf die romanistische Forschungstradition abbildet, zeigen sich klare Präferenzen und Defizite. Sprachgeschichtliche Arbeit wurde bislang ganz überwiegend im Bereich (2) geleistet. Dafür sind unterschiedliche, aber miteinander verflochtene Faktoren verantwortlich, in vorderster Linie wohl die Tatsache, dass die philologischen Disziplinen in der Zeit der Nationalstaatengründungen universitär institutionalisiert wurden sowie die Ausrichtung dieser Disziplinen auf die Schriftlichkeit, genauer gesagt: auf Texte von besonderer nationaler Bedeutung, noch genauer: auf Texte, denen sich eine solche Bedeutung zusprechen ließ und die daher im nationalphilologischen Sinn vereinnahmt werden konnten (vgl. [[Bibl:Krefeld 2007]]). So werden die ältesten Schriftzeugnisse, mit eindeutigem Bezug zum nachmaligen Territorium der Standardsprachen, wie zum Beispiel die Straßburger Eide, auch sofort zum ältesten Dokument 'der' Nationalsprache stilisiert (vgl. den programmatischen Titel La naissance du français von [[Bibl:Cerquiglini 1991]]) - selbst dann, wenn sich die Sprache des Textes, wie im Fall der Straßburger Eide, weder an eine bekannte dialektale Varietät anschließen lässt, noch als Basis nachfolgender Ausbau- oder Überdachungsprozesse angesehen werden kann.
Vor und jenseits der Standardisierung und territorialen Überdachung, die beide wesentlich die Schriftlichkeit betreffen, verliert die nationalphilologische Perspektive ihren Sinn. Allenfalls der Bereich (3) kommt noch in den Blick, aber Bereich (1) erfordert zweifellos eine andere Modellierung, die sich nicht an rezenten, 'nationalen' Territorien orientiert. Zu einer raumbezogenen Sprachgeschichtsschreibung von solchen Gebieten, die der nationalstaatlichen Zonierung nicht oder nur bedingt entsprechen ist es jedoch höchstens ansatzweise gekommen. Gerade die Ausschnitte des geolinguistischen romanischen Kontinuums, die in die Territorien mehrerer Dachsprachen fallen (wie die Pyrenäen, die Westalpen, das spanisch-portugiesische Grenzgebiet u.a.), oder deren 'nationale' Dachsprache gewechselt hat (Sizilien/Süditalien, Sardinien, Korsika, Katalonien), sind jedoch von besonderem sprachwissenschaftlichen Interesse. Selbst eine der wenigen und wichtigen Ausnahmen, [[Bibl:Rohlfs 1970]], lässt in ihrer widersprüchlichen Titelei den prägenden Druck des nationalphilologischen Musters erkennen: während der Untertitel ganz im Sinne seiner geolinguistischen Absicht und völlig zutreffend von Études de philologie pyrénéennes spricht, wird im Obertitel Le gascon fokussiert.
Parallel zur diskursiv verfassten Sprachgeschichtsschreibung ist eine starke und erfolgreiche Tradition explizit geolinguistischer Sprachdokumentation entstanden; sie hat einerseits Atlanten hervorgebracht und andererseits Wörterbücher, deren Materialien - ganz im Geiste der Sprachatlanten - oft in einem dichten Netz von Ortspunkten erhoben wurden (vgl. [[Bibl:GPSR]], [[Bibl:DRG]], [[Bibl:LSI]]). Besonders erwähnenswert ist die spezifisch romanistische Konzeption etymologischer Wörterbücher ([[Bibl:FEW]], [[Bibl:LEI]]), die mit Einschluss der Dialekte ausdrücklich exhaustiv angelegt sind.
Diese dokumentarische Forschungslinie lässt sich nur bedingt, sozusagen oberflächlich als nationalphilologisch apostrophieren, insofern die Grenzen der Dokumentation staatlichen bzw. staatssprachlichen Kriterien folgen; die entsprechenden Einschränkungen sind ein wenig inkonsistent, im wesentlichen jedoch rein pragmatisch begründet: Das [[Bibl:FEW]] wird im Untertitel als Eine darstellung des galloromanischen sprachschatzes spezifiziert; dieses Prädikat identifiziert grundsätzlich einen Ausschnitt des geolinguistischen Kontinuums, insofern alle französischen, frankoprovenzalischen und okzitanischen Dialektdaten aus Frankreich und Italien berücksichtigt werden; es schließt aber die als galloitalisch bezeichnete Teilmenge des 'Galloromanischen' ebenso aus, wie den katalanischen Wortschatz, der zwar geographisch auf der Iberischen Halbinsel bzw. den Balearen verortet ist, aber vom gallroromanischen Okzitanischen sachlich gesehen nicht getrennt werden kann. Eindeutiger ist der Ausschluss des nicht, oder nur oberflächlich galloromanischen Korsischen, das wiederum durch den [[Bibl:LEI]] erfasst wird, für den sich ähnliche und wiederum vor allem pragmatische zu bewertende Abgrenzungsfragen stellen; das Dolmitenladinische wird berücksichtigt, das Bündnerromanische und das Friaulische jedoch nicht usw.:
"Lo scopo del LEI consiste nella raccolta e nella interpretazione scientifica del materiale pubblicato concernente la lingua italiana e i suoi dialetti. Saranno incluse le documentazioni dei dialetti del territorio nazionale (compreso il ladino centrale) e di quelli della Corsica, della Svizzera italiana e dei territori italofoni della Jugoslavia. Escluse sono quelle del provenzale e del francoprovenzale (rappresentati nel FEW), del friulano (studiato da G.B. Pellegrini e dai suoi collaboratori) e del sardo (riunito del DES da M.L. Wagner). Sono ugualmente escluse le zone alloglotte […]" ([[Bibl:LEI]] I, Introduzione, o.S.)