Dieses Kapitel ist im Wesentlichen eine aktualisierte und teils übersetzte Version von (Krefeld 1999).
1. 1. Die Kategorisierung des menschlichen Körpers im Italienischen (und Romanischen) nach dem RUMPF-EXTREMITÄTEN-Modell
Wenn man die fachsprachlich-anatomische Terminologie außer Acht lässt, folgt die Kategorisierung des menschlichen Körpers einem Muster, das man als RUMPF-EXTREMITÄTEN-Modell bezeichnen könnte. Es präsentiert den Körper als ein komplexes organisches 1 Ganzes, das in Teile gegliedert ist, die sich als wiederum mehr oder weniger komplex organisierte Teil-Ganze (vgl. zu diesem Begriff Husserl & Holenstein 1975 darstellen.
Unterschieden werden in den romanischen Sprachen (Tappolet 1915) Kategorien für
- das Ganze: ita. il corpo | fra. le corps;
- die folgenden Teile (Teil-Ganze) : ita. la teste | la tête ‘Kopf’, ita. la nuca | fra. la nuque 'Nacken', ita. il collo | le cou ‘Hals’, ita. il tronco/il torso/il busto | fra. le tronc ‘torso’, it. gli arti | fr. les extrémités 'Gliedmaßen', das heißt ita. il braccio | ita. le bras, ita. la gamba | fra. la jambe mit den Teil-Ganzen ita. il piede | fra. le pied und ita. la mano | la main;
- Verbindungen zwischen den Teilganzen: ita. la anca | fra. la hanche;
- Verbindungen zwischen Teilen von Teil-Ganzen: ita. il ginocchio | fra. le genou ‘Knie’, ita. la caviglia | fra. la cheville ‘Fußknöchel'’, ita. la nocca 'Fingerknöchel', ita. il gomito | le coude ‘Ellenbogen’, le poignet ’wrist’); spezifische Bezeichnungen für deas Handlgelenk (ita. il polso 'Puls' und fra. le poignet, wörtlich 'Fäustchen', sind metonymisch zu verstehen).
Die Kategorisierung orientiert sich aus onomasiologischer Sicht an drei Kriterien
- der vertikalen Position (OBERHALB | UNTERHALB);
- der Blick- und Bewegungsrichtung (VORNE | HINTEN, SEITE);
- der Sichtbarkeit (INNEN |AUSSEN).
Die vertikale Positionierung ist fundamental. Sie findet sich in der Unterkategorisierung alles Teile außer des HALSES. Die Blick- und Bewegungsrichtung ist grundlegend für die Unterkategorisierung des KOPFES, des HALSES und des RUMPFES, aber eher unbedeutend für die GLIEDMASSEN; immerhin sind ita. il calcagno | fra. le talon 'Ferse' sowie fra. le jarret 'Kniekehle' lexikalisiert.’ Am wenigstens wichtig und gleichzeitig am spezifischsten ist die Sichtbarkeit; sie unterscheidet immerhin ita. collo | nuca (AUSSEN) von ita. gola 'Mundraum und Rachen' (INNEN) sowie entsprechend fra. le cou | la nuque und fra. la gorge 'Rachen'. Im Bereich der Gliedmaßen ist allenthalben ita. ascella | fra. aisselle 'Achselhöhle' zu nennen.
Immerhin folgt die Lexikalisierung bis zu einem gewissen Grad der Anatomie des Skeletts, so dass Analogien zwischen der Subkategorierung von ARM und BEIN:
ARM | ELLENBOGEN | HANDGELENK | HAND | FINGER | FINGERKNÖCHEL | |
ita. | braccio | gomito | mano | dito | nocca | |
fra. | bras | coude | main | doigt | ||
BEIN | KNIE | FUSSGELENK | FUSS | ZEH | ZEHENKNÖCHEL | |
ita. | gamba | ginocchio | caviglia | piede | dito | nocca |
fra. | jambe | genou | cheville | pied | doigt | orteil |
2. Kategorisierung nach dem organisch-funktionalen Prinzip
Allerdings wird bei genauerem Hinsehen das 'anatomische' Prinzip durch ein 'organisches' Prinzip überlagert, das sich an den funktionalen Unterschieden zwischen beiden Gliedmaßen orientiert. Die HAND wird nämlich im Unterschied zum FUSS als ein komplexes und salienters Teil-Ganzes wahrgenommen; Indizien dafür gibt es mehrere Indizien:
- der Typ ita. dito | fra. doigt wird spontan im Sinne von FINGER verstanden; meint man ZEH, präzisiert man it. le dita del piede | fra. les doigts du pied;
- die INNENHAND und jeder Finger haben eine spezielle Bezeichnung:
Auch die Namen des DAUMENS und des KLEINEN FINGERS können auf die ZEHEN übertragen werden:
- lat. pollex ‘Daumen' und 'pollex pedis', 'große Zehe';
- bündnerrom. polisch und polisch dil pei;
- fra. pouce und pouce du pied;
- it. pollice und pollice del piede (die GROSSE ZEHE heißt aber auch ita. alluce);
- It. mignolo ‘kleiner Finger’ und mignolo del piede.
- nach dem Befund aus anderen Sprachen überträgt man die Bezeichnung des FUSSES auf das BEIN (schwäbisch: er hat sich den Fuß ['Bein'] gebrochen) da die Funktionen (FORTBEWEGUNG) als identisch wahrgenommen werden, aber nicht die Bezeichnung der HAND auf den ARM, weil die Funktionen der Hand außerordentlich vielfältig sind; eher kann die HAND metonymisch für die ganze PERSON oder gar für eine ganz Personengruppe stehen (vgl. ita. manodopera)- nicht jedoch der FUSS.
3. Der etymologische Aspekt
3.1. Lateinischer Erbwortschatz
Angesichts der ganz grundlegenden Bedeutung der Körperteilbezeichnungen für die Bewältigung der alltagsweltlichen Herausforderungen ist es geradezu selbstverständlich, dass viele lateinische Ausdrücke in mehr oder weniger allen romanischen Sprachen weitergeführt werden. Diese weitreichende lateinisch-romanische Kontinuität, die sich mit Ausnhame der Bezeichnung der LIPPE, vom Rumänischen bis zum Portugiesischen erstreckt, stellt sich in onomasiologischer Sicht folgendermaßen dar:
- OHR: lat. auricula 'Ohr' (REW 793);
- NASE: lat. nasus (REW 5842);
- AUGE: lat. oculus (REW 6038);
- LIPPE: lat. labium (REW 4808) | labrum REW 4813);
- ZAHN: lat. dens (REW 2556);
- ZUNGE: lat. lingua (REW 5067);
- (KÖRPER)HAAR: lat. pilus (REW 6508)
- (KOPF)HAAR: lat. capillus (REW 1628);
- HAUT: lat. pellis (REW 6377);
- MAGEN: lat. stomachus (REW 8276a);
- RIPPE: lat. costa (REW 2279);
- HAND: lat. manus (REW 5339);
- FINGER: lat. digitus (REW 2683);
- ...
3.2. Zahlreiche Entlehnungen
Auffällig, ja erstaunlich ist dagegen die Tatsache, dass sich im Bereich der Körperteilbezeichnungen neben dem lateinischen Erbwortschatz auch zahlreiche Entlehnungen aus ganz unterschiedlichen Sprachen finden. Auch dazu eine onomasiologisch ausgerichtete Übersicht, die von West nach Ost das Französische, das Bündnerromanische (Roh.), das Italienische und das Rumänische sowie das Lateinische berücksichtigt:
Lat. | Fra. | Roh. | Ita. | Rum. | |
WANGE | fra. la joue < vorlat. *gabota | gauta < gall. galta | guancia < lang. *wankja |
obraz < slaw. obrazŭ |
|
NACKEN | nuque < arab. nukha |
totona, tatona < vorlat. ? |
nuca < arab. nukha | ceafa < vorlat. ?; vgl. alb. qafe | |
WIRBELSÄULE | échine < fränk. *skina | schiena < long. *skena | |||
FLANKE | flanc < fränk. *hlanka | fomau (eurs.) / fama (eng.) zu fom 'Hunger' | fianco < franz. flanc | ||
HÜFTE | hanche < germ. *hanka | calun (surs.) / gialun, chalun (Eng.) < vorlat. *calon-/*galon- | anca < germ. *hanka |
şold < siebbg.sächs. Scholder |
|
KNÖCHEL | nocca < lang. knohha | ||||
KNIEKEHLE | jarret < gall. garra (vgl. FEW s.v. garra) | garlet (Surs.) / giarlet (Eng.) < gall. *garrulu de *garra | |||
SPRUNGGELENK | garretto < gall. garra | ||||
BEIN | lat. camba / gamba < griech. καμπή | jambe < gr..lat. gamba | comba (Surs.) / chomma (Eng.) < gr..lat. camba | gamba < gr..lat. gamba | |
ARM | brac(c)hium < griech. βραχίων | bras < gr.lat. brac(c)hium | bratsch < gr.lat. brac(c)hium | braccio < gr.lat. brac(c)hium | braţ < gr.lat. brac(c)hium |
Dieser hinsichtlich der Sprachen kleine, aber hinsichtlich der engen onomasiologischen Zusammengehörigkeit keineswegs wilkürliche Ausschnitt zeigt die Heterogenität der Bezeichnungsherkünfte: synchron nebeneinander stehen antike lateinische Entlehnungen aus dem Griechischen frühmittelalterliche Germanismen und je ein hochmittelalterlicher Arabismus und Slawismus. Das Feld erweist sich, mit anderen Worten, als dauerhaft 'anfällig' für die Integration von Entlehnungen; die Frage nach der Motivation ist allerdings leichter gestellt als beantwortet.
Die Kontaktszenarien, in denen die griechischen Entlehnungen in das Lateinische, die germanischen Entlehnungen in das Romanische im heutigen Nordfrankreich bzw. im heutigen Norditalien, arabische Entlehnungen in das Italoromanische oder aber slawische Entlehnungen in das Rumänische verortet werden müssen, sind so grundverschieden, dass es naiv wäre. eine einzige, gemeinsame Erklärung zu suchen. Es ist ja im Übrigen auch mit sekundären Verbreitungen zu rechnen, die weit über das ursprüngliche Entlehnungsgebiethinausreichen. Im Übrigen sind der historische Kontakt von Sprachen, d.h. zwischen Sprechern unterschiedlicher Sprachen kein hinreichender Grund für die feste Imtegration einer Entlehnung in den Wortschatz einer Sprache, d.h. über die wohl sehr beschränkte Gruppe der Zweisprachigen hinaus.
Traditionell werden im Hinblick auf die Motivation so genannte 'Bedürfnis-' und 'Luxuslehnwörter' unterschieden (Tappolet 1913-1916). Diese beiden Gruppen sind gewiss nicht trennscharf und nicht leicht zu operationalisieren, aber sie sind für zwei Grundtypen intuitiv einleuchtend:
(1) Der Ersatz einer Form für einen Inhalt, der bereits im Lexikon einer Sprache vorhanden ist, erscheint in der Tat als 'Luxus', insofern es nicht besonders ökonomisch ist, ein etabliertes Ausdrucksmittel zu ersetzen. Der Fall ist nicht selten, wie die häufigen Entlehnungen im Bereich der Verwandtschaftsnamen zeigen (vgl. deu. Vetter/Base/Oheim/Muhme etc. ersetzt durch die fra. Entlehnungen Cousin/Cousine/Onkel/Tante etc.).
(2) Die Übernahme eines Wortes, d.h. einer Form mitsamt eines Inhalt für ein neues Konzept und neue Referenten ist dagegen mehr oder weniger selbstverständlich, da es einem Bezeichnungsbedürfnis für neue Referenten und Konzepte entspricht; es reicht, an den durch und durch englischen basierten Computerwortschatz der romanischen Sprachen oder des Deutschen zu erinnern. Bedürfnislehnwörter sind unvermeidliche und zweckmäßige Begleiterscheinungen des kulturellen Wandels und aller Akkulturationsprozesse.
Für die Entlehnung von Körperteilbezeichnungen sind beide Typen nicht adäquat. Denn es handelt sich weder um neue Referenten, noch ist mit einem ausgeprägten Prestigefaktor zu rechnen; fremdsprachliches Prestige spielt allenfalls in Bezug auf tabuanfällige Körperteile, die oft metaphorisiert werden, eine Rolle.
4. Die Kategorisierung des menschlichen Körpers im klassischen Latein
Einen Hinweis auf eine möglich Motivation gibt jedoch die Kategorisierung des menschlichen Körpers nach Maßgabe des klassischen Lateins, wie sie aus der folgenden Abbildung hervorgeht:
Die Kategorisierung des klassischen Lateins unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von den romanischen Lösungen: zunächst gibt es eine anatomisch subtile, alternative Opposition zwischen membra und artus:
- membra (Sg. membrum) 'Glieder [Kopf u. Rumpf nicht ausgenommen] als Körperteile' (Georges 1913, 1, Sp. 603);
- artus 'Extremitäten'.
Diese Opposition wird auf dem Weg zum Romanischen in einer etwas merkwürdigen Weise abgebaut: Form artus geht unter, wogegen die Form membra erhalten bleibt. Sie übernimmt indes den Inhalt von artus; das mit membra verbundene Konzept wird also gewissermaßen delexikalisiert und die Opposition von RUMPF und EXTREMITÄTEN im Sinne des eingangs skizzierten Modells setzt sich durch.
Im Bereich des Oberkörpers sind - auf anatomisch durchaus plausible Weise - drei Konzepte lexikalisiert, die dem RUMPF-EXTREMITÄTEN-Modell nicht entsprechen:
- lat. armus, "der oberste Teil des Oberarms bei Menschen, das Schulterblatt, des Oberschenkels bei Tieren, der Vorderbug, als Teil des ganzen Körpers" (Georges 1913, 1, 582);
- lat. lacertus "die Muskeln des Oberarms, der muskulöse, kräftige, starke Oberarm, von der Schulter bis zum Ellbogen" (Georges 1913, 2, 527);
- lat. humerus "I) eig., der Knochen des Oberarmes, das Oberarmbein, [3293] Cels. 8, 1. p. 326, 37 D. – II) übtr., der ganze Oberarm mit der Schulter, vom Schulterblatt und dem Schlüsselbein (iugulum) bis zum Ellbogen (ulna), die Achsel, die Schulter (ὦμος) (Georges 2, 3293).
Diese drei lat. Kategorien sowie lat. perna das dem RUMPF-EXTREMITÄTEN-Modell ebenfalls nicht entspricht, werden in den romanischen Sprachen entweder nur in ganz wenigen Reste fortgeführt (vgl. zu armus REW 661, zu lacertus REW 4822 und zu humerus REW 4232) oder aber in anderen Bedeutungen.
Ähnliches gilt für die Kategorisierung der unteren Extremitäten durch:
- lat. femur "der Oberschenkel" (Georges 1913, 1, 2715);
- lat. crus "der Unterschenkel, gew. vorzugsweise das Bein (Ggstz. femur, der Oberschenkel, das Dickbein, gew. bl. vorzugsweise »der Schenkel«)" (Georges 1, 1774);
- lat. perna "die Hüfte nebst dem Fuße, a) des Menschen [...] – b) des Viehes, bes. der Schweine, der Hüftknochen mit [1618] dem daran befindlichen Fleische bis zum Kniebug, die Hinterkeule, der Hinterschinken" (Georges 1913, 2, 1618).
Lat. femur und crus scheinen nach Auskunft des REW spurlos untergegangen zu sein, und der Inhalt von perna (vgl. REW 6418), wandelt sich im Sinne des RUMPF-EXTREMITÄTEN-Modells, denn okz. perno, kat. perna, spa. pierna, port. perna bedeuten allesamt 'Bein'.
Schließlich werden die beiden auffälligen Unterschiede zu den romanischen Systemen, nämlich die fehlenden Lexikalisierungen von ARM und BEIN abgebaut, und zwar eben durch die beiden frühen Entlehnungen aus dem Griechischen, nämlich brac(c)hium für ARM und camba/gamba für BEIN, die fast überall in der Romania durchgesetzt haben (mit Ausnahme des genannten Erhalts von perna 'Bein' im Iberoromanischen). Diese Entlehnungen sind somit in einen umfassenden Prozess der lexikalischen Rekategorisierung integriert.
Es fragt sich nun, worin die Attraktivitä des RUMPF-EXTREMITÄTEN-Modells besteht, und die Antwort kann nur in seiner ausgeprägten perzeptiven Salienz liegen. Sie manifetsiert sich z.B. in den ersten Zeichenversuchen von Kindern, die mit den so genannten Kopffüßlern stehen; diese Darstellungen reduzieren den Körper auf KOPF und EXTREMITÄTEN.
Auch mit fortschreitenden Fertigkeiten bleiben die Extremitäten grundlegenden Elemente, etwa in Form der Strichmännchen, die nun eindeutig dem RUMPF-EXTREMITÄTEN-Modell folgen:
Entlehnung dieses Typs sind könnte man vorläufig als 'Salienzlehnwörter' bezeichnen, die zwar nicht gerade einem 'Bedürfnis' im strengen Sinn entsprechen, aber doch gewissermaßen kognitiv nahe liegen, da sie perzeptive Präferenzen lexikalisieren. In dieser hier skizzierten Perspektive erscheint es ganz abwegig, die Verbreitung vom camba über medizinisches Spezialwissen zu motivieren, wie es im FEW (2, 119 s.v. camba) unternommen wird.