< < Vorheriger BeitragNächster Beitrag > >

Genua

Version:

Zitation: Thomas Krefeld (2023): Genua. Version 3 (15.12.2023, 11:24). Lehre in den Digital Humanities. , url: https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=5827&v=3

Schlagwörter: Ausbausprache , Kolonien , Diplomatie , Luchetto Gattilusio , Altokzitanisch , Altprovenzalisch , Republik Genua , Troubadour

 

Genova Stemma

Genova Stemma

1. Ein breites Ausbaufundament

Die staatlich-merkantile Grundstruktur der Republik Genua entspricht im wesentlichen derjenigen von Pisa; das Netz der Stützpunkte ist jedoch weiter, die beherrschten Flächen sind größer und das politische Gebilde ist erheblich dauerhafter. Zunächst sind zwei wichtige historische Ereignisse zu nennen, die Gründung des Erzbistums Genua (1133) sowie ein kaiserliches Diplom Friedrichs II aus dem Jahre 1162. Genua erhält damit:

“in feudum, salva tamen fidelitate imperiali, totam maritimam a portu Monachi usque ad Portum Veneris” ('den gesamten Küstenstreifen vom Hafen Monacos bis Portovenere')

Die folgende Karte gibt eine maximalistische Ansicht des genuesischen Kommunikationsraums:


Repubblica di Genova

Repubblica di Genova


Im Hinblick auf den Umfang, die Vielfältigkeit und die historische Kontinuität der genuesischen Schriftlichkeit fühlt sich Fiorenzo Toso, einer besten Spezialisten, sogar veranlasst beiläufig von nazione und ganz explizit vom kulturellen Patrimonium eines popolo zu reden:

“La letteratura di una città-stato, Genova, e di una regione-nazione, la Liguria, ha attraversato i secoli aggiornandosi costantemente e mantenendo tuttavia quegli elementi di continuità che sono stati di volta in volta sottolineati e offerti a une verifica sui testi: espressione di quel patrimonio collettivo di memorie, di abitudini, di tradizioni e di civiltà che costituiscono, con la lingua, i tratti distintivi di un popolo.” (Toso 1991, VI/2, 64)

1.1. Mehrsprachige Schriftlichkeit im seerepublikanischen Raum des Mittelalters

Auch in Genua ist die Ausgangssituation durch die für das mediterrane Mittelalter charakteristische mehrsprachige Schriftlichkeit gekennzeichnet. Den selbstverständlichen Kern bildet, wie überall, das Lateinische:

“[il latino,] più o meno venato di influssi volgari, sarà sempre sentito come parte della tradizione locale, e non si penserà mai seriamente di sostituirlo completamente col volgare.” (Toso 21997, 115)

Eine im italienischen Kontext zwar nicht ganz außergewöhnlich, aber angesichts seines gut etablierten Gebrauchs doch schon charakteristische Rolle spielt weiterhin das Provenzalische (oder: Altokzitanische). Dies Sprache war im 12./13. Jh. an der gesamten Küste von Katalonien bis Ligurien verbreitet; vor allem  wegen ihres bereits differenzierten literarischen Ausbaus in Gestalt der Troubadourliteratur wurde sie allenthalben als attraktive Schriftsprache aufgenommen. Aber wie es scheint, konnte sie gerade in Genua eine besondere Attraktivität entfalten:

“La maggiore e più produttiva cerchia trobadorica italiana fu […] quella genovese […]” (Paccagnella 1983, 126)

Mit ihrer Verbreitung in den italienischen Stadtrepubliken wird die provenzalische Literatursprache gleichzeitig aus dem Milieu des adeligen Mäzenatentums in die Verwaltungseliten der auf dem Handel fundierten bürgerlichen Gesellschaften übertragen.

“L’adozione della lingua d’oc non corrisponde però, tra la fine del sec. XII e il XIII, al reale influsso provocato da una contiguità geografica, né risulta particolarmente facilitata, come avviene ad esempio in Catalogna […], da solidarietà politiche o affinità linguistiche. I trovatori liguri, appartenenti spesso al ceto mercantile, amministrativo e giudiziario, scrivono in provenzale perché tale idioma rappresenta, nel campo poetico, una lingua di prestigio internazionale [...]” (Toso 21997, 115)

Ein wenig missverständlich ist im vorangehenden Zitat der Ausdruck internazionale, denn als 'Nationalstaaten' im modernen Verständnis oder wenigstens als deren Vorläufer  lassen sich die Stadtrepubliken nicht fassen. Gerade die Kultivierung einer von außen kommenden Sprache durch die städtische intellektuelle Elite zeigt, auf welche anachronistischen Abwege eine Beschreibung gerät, die der 'età comunale' das nationalstaatliche Ideal einer nach außen möglichst abgrenzbaren, 'eigenen' kulturellen Welt unterschieben würde. Dasselbe gilt im übrigen auch für die als 'scuola siciliana' bekannt gewordene intellektuelle Literatur, die am Hofe Friedrichs II in Palermo ebenfalls durch Vertreter der Verwaltungselite kultiviert wurde. Paradigmatisch für diese Autoren sind zwei Genuesen:

  • der Troubadour Bonifacio Calvo, der sich am Hof von Alfons X, in Toledo, für seine Texte des Galizischen bedient und
  • Percivalle Doria, der zwischen 1228-1243 als podestà, d.h. als höchster kommunaler Amtsträger, in Asti, Arles, Avignon, Parma und Pavia wirkte bevor er an den Hof von Manfredi und Friedrich II. wechselte, wo er auch in siciliano illustre schreibt, als:

“unico settentrionale legato alla scuola di Federico II e di Manfredi” (De Guglielmi zit. in Toso 21997, 115).

1.2. Das genovese in der Schriftlichkeit

Der Überblick über die genuesische Schriftlichkeit in Toso 1989-1991 füllt immerhin sechs Bände, von denen allein zwei (V/VI) Texte des novecento  erhalten; die Literatur diese Jahrhunderts  ist allerdings auf Lyrik beschränkt. Das Genuesische wäre somit eine interessante Fallstudie wert zum regionalen Sprachausbau in der Zeit vor der Verbreitung des Toskanischen (vor allem seit dem XVI. Jahrhundert) und dem nachfolgenden Abbau bereits erschlossener Diskurstraditionen, der sich als Prozess einer lang währender kommunikativen ‘Auszehrung’ der Schriftlichkeit darstellt. Gleichzeitig gehen mit dem Ausbau vom 13. bis zum  15. Jahrhundert sowie mit dem nachfolgende Abbau Prozesse der Standardisierung einerseits und der Destandardisierung andererseits einher:

“la relativa compatezza della norma scritta genovese due-trecentesca […] si frantuma nel ’400 sotto la spinta crescente del toscano e del latino cancelleresco e notarile, che si riveste sempre più di ambizioni umanistiche, col confluire di tradizioni grafiche diverse e spessp contrastanti, in una serie pressoché infinita di episodi individuali, dove i diversi ingredienti culturali possono entrare in combinazione in maniera estremamente varia” (Gianfranco Folena zit. in Toso 1989, I, 53)

Die frühe Vielfalt des Ausbaus zeigt sich im XII. Jh. in unterschiedlichen Dokumenten wie einem Testament (1156), einer Erbschaftserklärung (ca. 1180) und zwei - berühmten - literarischen Texten.

1.3. Literarische Texte auf Genuesisch

Diese beiden, literatur- und sprachgeschichtlich bedeutsamen Dokumente stammen  von Raimbaut de Vaqueiras, dem so genannten Contrasto (1190) und dem Descort (1197-1201); beide sind mehrsprachig abgefasst, wie die im folgenden zitierten ersten zwei Strophen des Contrasto zeigen; zunächst 'spricht' der Troubadour auf Provenzalisch, dann 'antwortet' die von ihm verehrte Dame auf Genuesisch. Mit diesen genuesischen Versen und zehn weiteren 'italienischen' Versen des Descort ist der in Genua lebende Raimbaut de Vaqueiras (aus Vacqeuyras bei Orange) der älteste namentlich bekannte Dichter, der eine italoromanische Vernakularsprache verwendet.

  1.  Contrasto
It. Übersetzung (englische Übersetzung)
  1. „Domna, tant vos ai preiada,
  2. sì us plaz, q’amar me voillaz,
  3. Q’eu sui vostr’endomenjaz,
  4. Car es pros et enseignada,
  5. E toz bos prez autreiaz;
  6. Per que·m plai vostr’amistaz.
  7. Car es en toz faiz cortesa,
  8. S’es mos cors en vos fermaz
  9. Plus q’en nulla genoesa;
  10. Per q’er merces, si m’amaz;
  11. E pois serai meilz pagaz

  12. Qe s’era mia·ill ciutaz,
  13. Ab l’aver, q’es ajostaz,
  14.                                       Dels Genoes”.
  15. “Jujar, voi no se’ corteso,
  16. Que me chaidejai de zo,
  17. Qe niente no farò,
  18. Ance fossi voi apeso!
  19. Vostr’amia no serò.
  20. Certo, ja ve scanerò,
  21. Proenzal malaurao!
  22. Tal enojo ve dirò:
  23. Sozo, mozo, escalvao!
  24. Ni za voi no amerò,
  25. Q’e’ chu bello marì ò,
  26. Qe voi no se’, ben lo so.
  27. Andai via, frar’, en tempo
  28.                                           Millorado”.

[...]

  1. “Donna, tanto vi ho pregata,
  2. se vi piace, di volermi amare;
  3. io sono vostro servitore,
  4. perché siete valente e saggia
  5. ed ogni buon pregio riconoscete:
  6. perciò mi è cara la vostra amicizia.
  7. Poiché siete in ogni cosa cortese,
  8. il mio cuore si è fermato in voi
  9. Più che in nessun’altra Genovese;
  10. perciò sarà mercede se mi amate,
  11. così sarò meglio pagato
  12. che se fosse mia la città
  13. dei Genovesi
  14. con tutto l’avere che vi è ammassato”.
  15. “Giullare, voi non siete cortese,
  16. perché mi chiedete cose
  17. che io mai farò.
  18. Piuttosto foste impiccato!
  19. Non sarò vostra amica.
  20. Certo, piuttosto vi scannerò,
  21. Provenzale importuno!
  22. Questi insulti vi dirò:
  23. sporco pazzo rapato!
  24. Né mai vi amerò,
  25. ché io ho un marito più bello
  26. di quanto voi no siate, ben lo so.
  27. Andate via, fratello, aspettate un occasione
  28. Migliore”.…
 (Text in Toso 1989, 57-58)  

Aus dem XIII. und XVI. Jahrhundert sind juristische (offizielle), geschäftliche, religiöse (viele Lauden) und literarische Texte, jeweils wiederum sehr unterschiedlicher Art überliefert. Im XIII. Jh. ist dann auch eine Dichterpersönlichkeit aus Genua greifbar, Luchetto, der auch als Anonimo genovese geführt wird.

Hier drei kleine Textbeispiele:

   
 Anonimo Genovese, Canto di Crociata  It. Übersetzung
  1.     I Xzeneijzi cum Maria
  2. se fan bonna compagnia
  3. per trouar ne ’l sepulchro
  4. Jesu Cristo forte et pulchro
  5. Ne ro mar cuncti navili
  6. sun co’ signo de la cruxe
  7. Benedica et suave
  8. cuncti cantan Agnus Aue
  9. Delectissima Maria
  10. Ke se nostra delecìa
  11. lo to fijo ka perduo
  12. Juda tristo la venduo
  13. Jerusalem se spracia
  14. ri Xzeneijzi se desfacia
  15. per redarte in compagnia
  16. Jesu Kriste Aue Maria
[...]
  1. I Genovesi per grazia di Maria
  2. si riuniscono in buona compagnia
  3. per ritrovare nel Sepolcro
  4. Gesù Cristo forte e bello.
  5. Sul mare tutti i vascelli
  6. hanno l’insegna della croce
  7. benedetta e soave:
  8. tutti cantano Agnus Ave.
  9. Amatissima Maria
  10. che sei la nostra delizia,
  11. il figliolo che hai perduto
  12. Giuda l’infame lo ha venduto.
  13. Gerusalemme si sfascia,
  14. i Genovesi si affannano
  15. per restituire alla tua compagnia
  16. Gesù Cristo, o Maria.
(Text in Toso 1989, 61; Hervorhebung Th.K.)  

Die eindeutigen Latinismen wurden farblich hervorgehoben.

Anonimo Genovese, Splendori di Genova (Rima CXXXVIII) It. Übersetzung
  1. Zenoa è citae pinna
  2. de gente e de ogni ben fornia;
  3. con so porto a ra marina
  4. porta è de Lombardia.
  5. Guarnia è de streiti passi,
  6. e de provo e de loitam,
  7. de montagne, forti xassi,
  8. per no venir in otrui man,
  9. che nixum prince ni baron
  10. uncha poè quella citae
  11. meter in sugigacion,
  12. ni trar de soa franchitae
  13. Murao à bello e adorno
  14. chi la circonda tuto intorno,
  15. con riva for de lo murao
  16. per che no g’è mester fossao.

[…] (Text in Toso 1989, 76-77)

  1. Genova è cittá popolosa
  2. e ricca di ogni bene;
  3. col suo porto marittimo
  4. è porta dell’Italia settentrionale.
  5. È difesa da stretti passi e,
  6. vicino e lontano,
  7. da montagne e forti rupi
  8. che le impediscono di cadere in mano agli            stranieri:
  9. per questo nessun principe o barone
  10. mai potè soggiogare quella città,
  11. né privarla della sua libertà.
  12. Ha mura belle e adorne
  13. che la circondano completamente,
  14. con scarpate fuori dalle difese,
  15. per cui non abbisogna di fossato.

[…]

Anonimo Genovese La vittoria di Curzola (Rima XLIX) It. Übersetzung
  1. Nostro armiraio con so stol,
  2. soa ihusma examinando,
  3. ben previsto como e quando,
  4. a la per fin se trasse for
  5. caudelando soe gente
  6. per farli tuti invigorir,
  7. chi de combater e firir
  8. mostràm tuti cor ardente.

[…] (Toso 1989, 86-87)

  1. Il nostro ammiraglio,
  2. esaminando la flotta e gli equipaggi,
  3. prevedette bene il momento opportuno
  4. e alla fine uscì in mare aperto
  5. guidando i suoi uomini
  6. ed incoraggiandoli,
  7. loro che di combattere e di colpire
  8. mostravano il cuore ardente.

Die belegten Formen haben übrigens oft ganz direkte Entsprechungen im modernen Genuesischen, wie exemplarisch die Bestätigung der im Auszug aus den Splendori di Genova hervorgehobenen Form pinna  'piena' durch den AIS zeigt.


  Genuesisch 'pieno, piena' (AIS 1335) Genuesisch 'pieno, piena' (AIS 1335)


1.4. Offizielle Texte auf Genuesisch

Von besonderem Interesse in seerepublikanischer Perspektive sind jedoch die Texte mit offizieller Funktion.

“Fin dalla rima metà del sec. XIV appare documentato un uso del volgare da parte della Cancelleria del Comune. Il volgare genovese viene così assumendo funzioni di lingua scritta ufficiale, accanto (e molto in subordine)  al latino, in corrispondenza con l’utilizzo pressoché totale che le varie magistrature dello stato fanno dello stesso volgare a livello parlato.” (Toso 21997, 137)

Vor allem im Umgang mit anderen, konkurrierenden Staaten war diese Schriftlichkeit von großer Wichtigkeit, da sie diplomatische Aufgaben im Dienste des genuesischen Mittelmeerhandels erfüllte.

Den “primo esempio di uso cancelleresco del volgare” (Toso 21997, 138) liefern uns die Istruzioni politiche a Seguano, inviato del Comune di Genova a Cipro (ca. 1320 o dopo il 1339). Mit dieses sehr genauen Anweisungen wird der Gesandte Genua instruiert, wie er sich in einem bestimmten Fall gegenüber dem König von Zypern  zu verhalten, genauer: auszudrücken habe. Das Königreich Zypern war einer im Gefolge der Kreuzzüge als 'lateinisches', d..h. katholisches Staatsgebilde entstanden; es wurde von Königen mit vermutlich französischer Muttersprache regiert. Obwohl dem gesandten sogar der Wortlaut vorgegeben wird, ist von einer Übersetzung nicht die Rede; das legt den Schluss nahe, der König habe das Genuesische hinreichend gut verstanden, was angesichts der Präsenz genuesischer (und andere 'italienischer') Kaufleute auf Zypern nicht überraschend wäre.

“A uoi, Seguran, cometamo per aregordo e a memoria redugamo, si como se dira de sota, primo:

Quando voi serej in famagosta, presenterei la letera a li mercanti, la quar Noi u’auemo dajta. […] In casso che che perigo parese de descaregar le garee per sospezon […] lantor si poresi presentarue deuanti lo rej con la letera de creenza che noi v’auemo dajta, e seando dauanti da lo rej, saluarlo per parte nostra, si come si dexe, e in apreso dir cosi como diro de sota:

«Segnor Rej, noi mercanti somo vegnuj in la uostra terra con gran segurtae a far marcantia en lanna, per la uostra terra e per nostro ben; per che sea uostra marce de dranae segurtae de star e de andar, si como noi somo usaj, e in pero che alcune re sospezon son inter noj per alcune crie o comandi, fajti per la uostra majstae, che se alcunna naciun fara dapno etc. […]»” (Text aus Toso 21997, 138)

Offenkundig diplomatische Aufgaben waren auch mit anderen, uns überlieferten Schriftstücken Genuas verknüpft, etwa folgenden:

2. Entstehung der modernen Diplomatie im Kontext des seerepublikanischen Mittelmeerhandels

Die Bedeutung  dieser Text geht über das Anekdotische ihres jeweiligen Anlasses weit hinaus; sie ist vielmehr struktureller Art, denn das weitläufige Netz der Stützpunkte und seine Verflechtung mit anderen, teils ähnlich (wie Venedig), teils aber auch vollkommen anders funktionierenden Staaten (wie z.B. dem Ungarischen Reich, der Goldenen Horde oder dem aufkommenden Osmanischen Reich) erforderte geradezu die Institutionalisierung von Amtsträgern, die kleinere, koloniale Ableger im Auftrag der Herkunftsstädte repräsentierten:

“Le relazioni tra l’Occidente e il Mediterraneo orientale costituiscono il campo privilegiato nel quale è nata la diplomazia moderna. La nascita dei consolati d’oltremare nel XII secolo può essere infatti considerata come un evento eccezionale nelle relazioni internazionali e come la diretta conseguenza dell’espansione europea, la quale sfociò in una colonizzazione quasi simile a quella dei tempi moderni.” (Balard 2001, 83)

Michel Balard weist darauf hin, dass der Ausgangspunkt dieses Systems in den italienischen Niederlassungen im so genannten Heiligen Land  zu sehen ist:

“L’esperienza delle colonie italiane in Terrasanta è dunque fondamentale per la nascita di comunità autonome sotto il dominio di un ufficiale nominato dalla metropoli, il quale rappresenta presso le autorità locali gli interessi della madre patria e di tutti i coloni espatriati. La seconda metà del XII secolo vede l’affermazione di questo sistema, legato – come sottolinea Pierre Racine – alle universitates mercatorum delle città mercantili italiane, rappresentate da un console in terra straniera.” (Balard 2001, 87)

Die schnelle Durchsetzung und Verbreitung dieses Konsularsystems sind Ausdruck seiner großen Nützlichkeit.

“Nel Duecento il sistema consolare – sia sotto la denominazione di bailo, sia sotto quella di poestà o di console – è insediato ovunque.” (Balard 2001, 87)

Die Republik Venedig übernimmt und perfektioniert diese Institution, zunächst für die Venezianer im byzantinischen Konstantinopel: Der jeweilige Vertreter wurde vom großen Rat gewählt mit einer commissio ausgestattet und zum Leiter eines regimen mit Beratern und einer familia von Funktionären. Gelegentlich konnten diese Statthalter eine sehr weitgehende Autonomie entwicklen, wie insbesondere der genuesische podestà in den Kolonien Pera und Caffa:

“L’autonomia del console genovese di Caffa è altrettanto larga. Durante il Trecento, estese la sua competenza a tutte le colonie genovesi del Mar Nero, nelle quali inviò i soldati per la loro guarnigione. Il trattato dell’agosto 1387 riconosce la piena indipendenza di Caffa nei riguardi dell’Orda d’oro, un’indipendenza di nuovo proclamata dallo statuto della colonia del 1449. Il console, a nome del Comune, è padrone del suolo urbano, amministra la giustizia per tutti gli abitanti, siano essi latini o orientali, nel limite territoriale della città, approfitta delle congiure di palazzo nell’Orda per affermare l’autonomia della colonia, nella quale il rappresentante del khan dei tartaro, il tudun, sostiene la parte di un console straniero in una terra che dovrebbe la sua! In meno di un secolo, il console genovese di Caffa, grazie al indebolimento dell’Orda, è diventato quasi il sovrano di tutta la Gazaria.” (Balard 2001, 94)

Es versteht sich zwar von selbst, verdient jedoch explizit und nachdrücklich hervorgehoben zu werden, dass mit dem Konsularwesen ein Apparat entsteht, dessen Funktionieren eine routinierte Schriftlichkeit voraussetzt.

3. Sprachkontakt und sprachliche Ausgleichserscheinungen in der merkantilen kolonialen Schriftlichkeit

Die Stadtvarietäten der Seerepubliken sind  als Kontaktvarietäten einzuschätzen. Genauer gesagt muss man außerhalb ihrer primären Verbreitungsgebiete von folgenden Voraussetzungen ausgehen:

  • Die Sprecher italienischer Vernakularsprachen, größten Teils aus merkantilem, administrativem oder militärischem Umfeld,  standen stets in mehr oder weniger intensivem Kontakt mit Sprechern anderer italoromanischer, romanischer oder auch ganz anderer Idiome.
  • Viele Sprecher werden über eine mehr oder weniger gute mehrsprachige Kompetenz verfügt haben.

Es ist also grundsätzlich mit multiplen Sprachkontakterscheinungen zu rechnen. Allerdings ist es, ebenfalls grundsätzlich, schwierig potentielle Manifestationen sprachlichen Kontakts in schriftlichen Quellen richtig einzuschätzen: Handelt es sich um idiolektale Varianten  auf der  Ebene der individuellen Kompetenz (etwa um Akkomodationen an die Sprache von Geschäftspartner) oder aber um konventionelle Merkmale auf Ebene des sprachlichen Codes, also um sekundäre Varietäten? Hier wird man sich wohl oder übel an der robusten Faustregel  'Einmal (d.h. bei einem einzigen Individuum belegt) ist keinmal und zweimal (d.h. bei mehreren vergleichbaren Individuen belegt) ist immer'  orientieren müssen. Vor diesem Hintergrund sind die Briefe des Kaufmanns Giovanni Gregorio Stella vom Ende des XV. Jh., die in Palermo als Beweismittel eines Prozesses  aufbewahrt wurden, ein illustratives Beispiel:

“documentano le consuetudine scrittorie di un genovese all’estero, non solo, ma di un mercante che intrattiene, dalle coste maghrebine, importanti relazioni commerciali con le principali città della pensiola e delle isole” (Toso 21997, 163).

Hier ist der Brief vom 1. August 1480:

N:SharesWebDHLehrehtml/wp content/uploads/2015/11/1447226977 Lettera merc genovese Tunisi 1480

Lettera di un mercante genovese di Tunisi del 1480 (aus: Toso 21997, 163; Hervorh. Th.K.)

Toso beschreibt diesen Text als hybride Verbindung genuesischer, toskanischer und meridionaler Varianten und weist auch auf den markanten Arabismus zinetto 'Rassepferd' hin:

“nel più deciso tasso di toscanizzazione rispetto a molto documenti metropolitani coevi e nell’evidente presenza di sicilianismi e meridionalismi (mannai ‘mandai’, aveti a pagari, misi ottu, habiati avuto) che si mescolano ai pur sempre presenti elementi grafofonetici liguri (fatiga, grixone, dexideremo, l’avemo arecomandato. Tutti questi caratteri danno ragione di quella, che doveva essere una koiné commerciale «italiana», estremamente fluttuante e aperta all’assunzione di elementi di svariata provenienza (anche arabismi: zinetto per ‘cavallo di razza’, sta allo spagnolo jinete e all’it. ginetto, ispanismo attestato dal sec. XV, ma qui deriverà direttamente dall’arabo volgare veneti, cfr. Toso 1993b: 87), in uso nei porti del Mediterraneo prima ancora dell’affermazione della «lingua franca» come la conosciamo da documenti più tardi. La fedeltà alle consuetudini linguistiche della madrepatria si confronta quindi con la necessità pratica di accedere a uno strumento comunicativo sopraregionale e addirittura internazionale, del quale il volgare ligure non è ormai che uno degli elementi costitutivi (Toso 21997, 163).

Die diatopische Hybridität wird von Toso zweifellos zu Recht herausgestellt; sie spiegelt sich nicht nur im Nebeneinander nord- und süditalienischer Formen, sondern sie ist reicht bis in die Graphie einzelner Formen.

Eine hybride Schreibung zeigt offenkundig iorni der süditalienische Anlaut [j-], während der Tonvokal [o] dem norditalienischen bzw. toskanischen Typ entspricht. Man vergleiche die rezente Arealdistribution beider Varianten gemäß der Karte 336 des AIS:


giorno/iurnu_AISN:SharesWebDHLehrehtml/wp content/uploads/2015/11/1447323744 Iurno giorno nördl. giorno und südl. iurnu in  AIS 336 Die Form iorni lässt sich sogar noch genau lokalisieren, nämlich in Sizilien:

siz. iorni 'giorni' in AIS 336

siz. iorni 'giorni' in AIS 336

Erschwert wird die sprachwissenschaftliche Interpretation der im Text dokumentierten Formen allerdings (wie immer noch sehr oft) durch die Tatsache, dass nur eine redigierte Fassung, nicht aber das Original des Dokuments zugänglich ist. Aus der vorliegenden Redaktion geht nicht eindeutig hervor, was auf die Interpretation des Herausgebers zurückgeht. So fehlt im Original  mit allergrößter Wahrscheinlichkeit die gesamte Interpunktion; die differenzierten Interpunktionszeichen wurden ja erst mit dem Buchdruck und der damit erfolgten Standardisierung (durch Pietro Bembo 1525) systematisch eingeführt.

Wenn man also zum Beispiel das eher unauffällig erscheinende Syntagma uno bello, grande e molto corridore zinetto grixone 'ein schönes, großes und sehr schnelles, graues Pferd' ohne Komma schreibt, also  uno bello grande e molto corridore zinetto grixone ergibt sich eine adverbiale Lesart von bello, nämlich uno (bello grande) e (molto corridore) (zinetto grixone); diese phraeologische Verbindung bello grande 'molto bello' ist bis heute typisch süditalienisch.

Vor allem ist die phonetische Aussagekraft der geschriebenen Formen grundsätzlich problematisch, denn man darf keine phonetische konsequente Schreibung erwarten.

Toso zitiert den oben wiedergegebenen Brief als Beispiel einer "koiné commerciale «italiana»", die darüberhinaus als "estremamente fluttuante e aperta all’assunzione di elementi di svariata provenienza" beschrieben wird. Diese Charakterisierung ist jedoch im Hinblick auf die zentrale Frage, ob es sich um  einen Idiolekt oder um eine Varietät handelt, gerade wenig hilfreich, da sich beide Bestimmungen doch eher ausschließen; eine präzisere Festlegung in der einen oder anderen Richtung wird erst auf einer breiteren empirischen Basis möglich sein. Auch die historische Festellung, die so genannte lingua franca (vgl. eine der folgenden Sitzungen) habe sich erst später gefestigt, hat angesichts ihrer ohnehin sehr schwachen Dokumentation nur wenig Gewicht. Zweifellos richtig und wichtig ist jedoch der Hinweis auf die gegen Ende des 15. Jahrhunderts bereits unübersehbare durchweg toskanische Prägung dieses schlichten, keineswegs literarisch ambitionierten Kaufmannsbriefs. Darauf werden wir noch zurückkommen.

< < Vorheriger BeitragNächster Beitrag > >

Schreibe einen Kommentar