Seit der Spätantike lässt sich das Germanische genauer fassen; insbesondere drei Gruppen sind aus romanistisch-kontaktlinguistischer Sicht von Bedeutung: die Goten, die Franken und die Langobarden. Es wäre allerdings vollkommen abwegig, vom zunehmend gehäuften Auftreten der drei Ausdrücke darauf zu schließen, sie würden auf sprachlich und ethnisch homogene Gruppen referieren. Vielmehr treten sie während komplexer Phasen der Ethnogenese ins Licht der Geschichte.
1. Die Goten im Allgemeinen
In dieser Perspektive wird die Geschichte der Goten in exemplarischer Weise von Herwig Wolfram 1979 geschrieben; dieses Standardwerk, das dem vorliegenden Kapitel zu Grunde lieg, schließt an die bahnbrechende Arbeit zur frühmittelalterlichen Ethnogenese von Wenskus 1961 an. Für soziale Gruppen wie die so genannten 'Goten' in der Spätantike sind die aktuellen politischen Kategorien nicht wirklich angemessen; sie können mit einem lateinischen Ausdruck als 'Gens' gefasst werden:
Stamm und Heer sind eins; die Gens ist das 'Volk' in Waffen. [...] Die Gleichung: Volk = Heer stellt das Leben auf und macht damit die Etymologie aller Begriffe zunichte, die wie Gens, Genus, Genealogia, Nation, die Vorstellung einer biologischen Abstammungsgemeinschaft enthalten. Barbarische Völker sind jedoch stets gemischt; ihre Entstehung ist, obwohl es bis heute den Quellen immer wieder nachgeschrieben wird, keine Sache des 'Blutes', sondern der Verfassung. Dies bedeutet zunächst nicht viel mehr als das Zusammenfassen und Zusammenhalten derjenigen Gruppen, die ein Barbarenheer ausmachen. Anführer und Repräsentanten von 'bekannten' Sippen, das heißt von solchen Familien, die ihre Herkunft von Göttern ableiten und ihr Charisma in entsprechenden Erfolgen beweisen können, bilden die 'Traditionskerne', um die sich Stammesbildung vollzieht. Wer sich dazu bekennt, sei es dass er hineingeboren oder durch Aufnahme zum Bekenntnis zugelassen wird, ist Teil der Gens, Angehöriger einer Abstammungsgemeinschaft aus Überlieferung." (Wolfram 1979, 451)
1.1. Einige historische Marksteine
Die Goten stammen ursprünglich aus Skandinavien, wie bereits Jordanes beschreibt (vgl. den Namen der schwedischen Insel Gotland).
"Sie waren ein ursprünglich abhängiges, lange Zeit auch noch kleines Volk, das dennoch einem großen Strom seinen Namen gab" (Wolfram 1979, 452)
"[...] es [wurde] zum Kern jener Völkerlawine, die im letzten Drittel des zweiten Jahrhunderts den Zusammenbruch der römischen Donaufront und gewaltige Veränderungen im sarmatisch-pontischen Raum bewirkte [...]" (Wolfram 1979, 452)
"[...] gegen gentile Konkurrenz setzten sie sich erfolgreich durch und standen - selbstverständlich unter königlicher Führung - bald an der Spitze polyethnischer Verbände. Beginnend mit 238 verheerten die Gotenstürme mehr als vierzig Jahre lang die östlichen Provinzen des Römerreichs." (Wolfram 1979, 452)
Diese langwierigen Auseinandersetzung endeten mit einer katastrophalen Niederlage der Goten gegen Aurelian (271 n. Chr.) und der nachfolgenden Spaltung der Goten eine westliche Gruppe (die so genannten Terwingen oder auch Vesier, später Visigothen/Westgoten) und eine östliche (die so genannten Greuthungen, später Ostgoten) unter ihrem König Ostrogotha (vgl. , 57 ff.): Man beachte, dass diese Erfolge Aurelians mit der Aufgabe der Provinz Dacia (dem größten Teil des heutigen Rumäniens) verbunden sind, die den Goten anscheinend überlassen wurde.
Diese geographische Konstellation sollte sich jedoch bald, mit dem Einbruch der Hunnen, wieder grundsätzlich ändern.
"Diejenigen von ihnen, die keine 'hunnischen' Goten werden wollten und sich der Unterwerfung entziehen konnten, traten auf römisches Gebiet über. Hier wurden sie die Föderaten des Reichs, blieben jedoch auf Dauer nur dann eine politisch handlungsfähige Gens, wenn sie ein Königreich errichteten. Das gotische Regnum auf römischem Boden wurzelt zwar in der gentilen Tradition, ist aber eine lateinische Institution, die an die höchsten Magistrate der spätantiken Heeresorganisation und die damit verbundenen vizekaiserlichen Positionen anknüpft. [...] Mit seiner Hilfe vollzieht sich die Institutionalisierung, wenn man will: die Imperialisierung, der Gens. So nahm Theoderich der Große für sein Regnum Maß am Imperium Romanum, und Leovigild tat desgleichen im westgotischen Spanien, nachdem er das Reich stabilisiert hatte, Gleichsam als Gegenbewegung dazu vollzog sich die Gentilisierung der antiken Welt. Der Römername verliert seine ökumenische Bedeutung und bezeichnet nur eine Gens unter vielen, der ein Flavius Amalus rechtlich angehörte, mit der ein 'gewöhnlicher' Gote sozial verbunden ist, die Burgunder und Franken aber sogar den gemeinsamen Stammvater besitzen." (Wolfram 1979, 453)
Im erwähnten Namen Flavius Amalus, den sich der ostgotische König Theoderich der Große (ca. *451-526) selbst verlieh, spiegelt sich die merkwürdige Stellung der Ostgoten unmittelbar nach dem Zusammenbruch des weströmischen Kaiserreichs: Er bringt einerseits die genealogische Zugehörigkeit zur (ost)gotischen Dynastie der Amaler zum Ausdruck und reklamiert andererseits Nähe zur (zweiten) flavischen Dynastie der römischen Kaiser (vgl. auch Wolfram 1979, 356).
Institutioneller Hintergrund ist das bereits zu römischen Kaiserzeiten existierende Recht der Föderaten einen König zu erheben. So tritt auch Theoderich als 'König', nicht als 'Kaiser' auf; In Abwandlung des Prinzips 'Den Kaiser macht das Heer' fomuliert Wolfram (1979, 356) daher: 'Den König macht das Föderatenheer.' (365)
Die oben erwähnte 'Gentilisierung' der Antike, die sich deutlich im Bezeichnungssystem der militärischen Hierarchie niedergeschlagen hat (vgl. Wolfram 1979, 262 ff. zu dux, comes und gastaldus) spiegelt sich übrigens auch in der Bedeutung von lat. gens (Georges 1913, s.v.) wider, das in der Kaiserzeit für fremde Völker, d.h. heißt für Nicht-Römer verwandt wurde und schließlich im Romanischen soviel 'Menschen, Leute' bedeutet; dieser Bedeutungswandel wurde mindestens indirekt durch die Einbindung der Germanen befördert.
Schließlich ist daran zu erinnern, dass die Goten nicht nur früh, wohl im byzantinischen Kontext an der unteren Donau, christianisiert wurden, sondern auch bereits große Teile der Bibel ins Gotische übersetzten; in dieser, dem Bischof Wulfila (311-383) zugeschriebenen, kulturgeschichtlich bedeutsamen Leistung wurde eine spezielle Schrift verwandt, die griechische, lateinische und partikuläre Buchstaben kombiniert; das Gotische ist dank dieser Überlieferung als einzige altgermanische Sprache recht gut dokumentiert. Der ganze Komplex von Christianisierung und Verschriftung lässt bereits eine massive Akkulturation an die griechisch-mediterrane Welt erkennen, die im späteren weströmischen, d.h. lateinischen Kontext für Auseinandersetzungen sorgte, denn Wulfila und mit ihm die terwingischen Westgoten waren Anhänger des so genannten arianischen Christentums, das die Dreifaltigkeitslehre ablehnte und daher in scharfem Gegensatz zum 'römischen' Katholizismus stand. Diese konfessionelle Ausrichtung hat gewiss zur Ethnogenese des Westgoten beigetragen.
Ein Zeichen der Akkulturation darf man auch darin sehen, dass durch Theoderich eine Historiographie der Goten in Auftrag gegeben wurde; diese Historia Gothorum des Cassiodor (vgl. auch 1899, s.v. Cassiodorus 4) ist zwar nicht direkt erhalten, aber immerhin indirekt in großen Teilen übermittel worden, denn sie wurde zur Quelle von Jordanes Getica.
1.2. Die Visier (Visigoten, 'Westgoten') im Besonderen
Dieser Teil der Goten zog jahrzehntelang durch das Römische Reich (vgl. zu den Details Wolfram 1979), wobei u.a. die Stadt Rom eingenommen wurde (der sacco di Roma, im Jahre 410 n. Chr.); vgl. zum Überblick die folgende Karte:
Nach einigen schweren Niederlagen wurden die Westgoten dann zu Verbündeten (foederati) der Römer, die sie speziell auf der Iberische Halbinsel erfolgreich gegen andere germanische Völker, nämlich die Sueven und die Wandalen, einsetzten. Im Jahre 418 wurden sie aus Iberien zurückbeordert und durch einen neuen Pakt (ein foedus; vgl. Georges 1913, s.v.) in das Imperium eingebunden:
"Das neue Foedus wurde mit dem fortentwickelten Instrumentarium der römischen Ansiedelungspolitik, hospitalitas, derart verbunden, dass eine höchst leistungsfähige Institution entstand. Nun wurde es möglich, die für die Wiederherstellung des römischen Galliens notwendige Armee aufzustellen, ohne den öffentlichen Haushalt völlig zu ruinieren." (Wolfram 1979, 207)
Die Goten wurden in Südwestfrankreich zwischen Bordeaux und Toulouse und an der Küste noch weiter bis etwa an die Loiremündung angesiedelt (Wolfram 1979, 208); so entstand noch zu Zeiten des römischen Kaiserreichs das so genannte Tolosanerreich mit der Hauptstadt Toulouse, das sich zwischen 466 und 507 zu einer echten Großmacht entwickelte:
"Südlich wie nördlich der Pyrenäen geboten die tolosanischen Könige über ein Land, das sich aus administrativen Einheiten des römischen Reichs zusammensetzte und unverändert als dessen Teil galt. [...] Das Ergebnis - der bedeutendste Nachfolgestaat des Imperiums, ein unabhängiges gallisch-spanisches Regnum, wo auf einer dreiviertel Million Quadratkilometern vielleicht an die zehn Millionen Menschen lebten. Das neue Königreich übertraf das alte Föderatenreich um mehr als das Sechsfache seines Umfangs." (Wolfram 1979, 219)
"Die Ansiedlung der Westgoten in Südfrankreich stellt ein weltgeschichtlich erstrangiges Ereignis dar." (Wolfram 1979, 208, Anm. 6)
Es entwickelte sich in institutioneller Kontinuität des römischen Reichs ein westgotisch beherrschter Flächenstaat.
Bemerkenswert sind die Bemühungen mit gesetzgeberischen Mitteln eine institutionelle Ordnung aufzubauen. So wurde in Fortführung des Codex Theodosianus der nur bruchstückhaft erhaltene und dem König Eurich zugeschrieben Codex Euricianus (ca. 475) erlassen: "die epochale und vorbildhafte Leistung des Gesetzwerkes, das zusammen Breviarium Alaricianum an Bedeutung und Nachwirkung der Bibelüberetzung Wulfilas in nichts nachsteht." (vgl. , 238). Vor allem das gerade genannte Breviarium Alaricianum (oder: Lex romana visigothorum) aus dem Jahre 506 hat sich als eine, zeitlich und räumlich weit über das Westgotenreich hinaus reichende, sehr bedeutsame Kodifikation des römischen rechts erwiesen, die teils (z.B, in den romanischen Zentralalpen) bis ins Hochmittalalter in Gebrauch bleiben sollte.
In Bedeutung und Umfang wenig klar ist dagegen die westgotische Siedlungstätigkeit im Gebiet nördlich der Pyrenäen, wie die kritische Auseinandersetzung mit Ortsnamenforschung von Gamillscheg in Wolfram 1979 (282-286) zeigt:
"Derzeit kann man allerdings weder die Siedlungen noch die Gräberfelder der tolosanischen Goten nachweisen, so dass die wichtigste Quellengattung fehlt, um | ihre Kulturgeschichte zu schreiben." (Wolfram 1979, 256 f.)
"Jedenfalls stellen die tolosanischen Westgoten aus archäologischer Sicht eines der großen ungelösten Probleme der Vor- und Frühgeschichte dar." (Wolfram 1979, 257, Anm. 60)
Auch die wichtige Frage nach der Mehrsprachigkeit und dem Sprachwechsel zum Romanischen ist nicht leicht zu beantworten.
"Wann die Westgoten ihre angestammte Sprache aufgaben, ist umstritten." (Wolfram 1979, 258)
"Derselbe König [gemeint ist Eurich;ThK], der sich zusammen mit seiner Gattin Ragnahild an der überfeinerten Dichtkunst des gallorömischen Dichters [gemeint ist Sidonius Apollinaris; Th.K.] erfreute, bediente sich dem italisch-kaiserlichen Beamten gegenüber eines Dolmetschers. Man sollte daraus nicht, wie es mitunter geschieht, auf die mangelhaften Lateinkenntnisse des Königs schließen, sondern umgekehrt daran erkennen, dass er noch gotisch sprach. Warum er dies vor dem ausländischen Unterhändler tat, ist leicht zu erraten. [...] so konnte auch der 'souveräne' Westgotenfürst seine und seines Staates Unabhängigkeit auf solche Weise betonen." (Wolfram 1979, 259)
Überhaupt muss man mit ausgeprägter Heterogenität der Bevölkerung im Westgotenreichs rechnen:
"aus welchen Völkern bestanden die Westgoten? [...] Das 418 angesiedelte Gotenheer bestand aus terwingisch-vesischen, greuthungisch-ostrogothischen und unterschiedlich stark gotisierten, ursprünglich nicht gotischen Elementen" (Wolfram 1979, 292)
Zu den historisch bezeugten, nicht gotischen Gruppen gehörten Taifalen und Alanen.
Allerdings war das tolosanische Reich nur von kurzer Dauer, denn mit der Expansion der Franken in Frankreich verlagerte sich das Zentrum zunehmend auf die Südseite der Pyrenäen:
Bereits 494 und dann wieder 497 beobachtete man in Spanien die ersten Anzeichen einer regelrechten westgotischen Einwanderung" (Wolfram 1979, 232)
Im Gefolge der Schlacht bei Vouillé (507 n. Chr.) war Ende des Tolosanerreichs bereits gekommen; die Gebiete nördlich der Pyrenäen gingen an die mächtig expandierenden Frank unter Chlodwig verloren. Aber südlich, im heutigen Spanien erhielt sich die westgotische Herrschaft noch ca. 200 Jahre; ob die nach Süden gehenden Flüchtlinge aus den verloren gegangenen Nordgebieten jedoch überhaupt noch Gotisch sprachen scheint durchaus problematisch.
2. Wörter
Ein zentrales Kriterium für die Herkunftsbestimmung germanischer und hier speziell gotischer Lehnwörter im Romanischen ist ihre räumliche Verbreitung:
Bei Wörtern, die sich ebenso auf west- wie auf ostgotischem Boden finden, ist es ohne weiteres möglich, dass die italienischen Entsprechungen aus dem Ostgotischen stammen, wie dass sie schon vorher aus dem Westgotischen in das Vulgärlateinische eingedrungen sind. [...] Dagegen hat der ostgotische sprachliche Einfluss nie die Grenzen des Ostgotenreichs überschritten. Die westgotisch-romanischen Wörter sind noch ein Bestandteil der Verkehrssprache des weströmischen Reichs geworden, die ostgotischen Wörter dringen aber erst zu einer Zeit in das Romanische, in der der geistige Verkehr zwischen den einzelnen Teilen des Imperiums zu Ende war." ((Gamillscheg 1934-1936), I, 365)
2.1. Gesamte Westromania
Die weite Verbreitung in der gesamten Westromania kann ein Hinweis auf Zugehörigkeit eines Worttyps zu den ältesten gotischen Entlehnungen ins Vulgärlateinische sein; zu nennen sind nach (Gamillscheg 1934-1936, I, 366 ff.) u.a. : *rêþs 'Rat, Vorrat', bandwô 'Zeichen', *bramôn 'heulen', *haribaírg- 'Herberge', hilms 'Helm', *krappa 'Haken', *rand 'Schildrand', triggwa 'Bündnis', *wardja 'Wächter'.
Unübersehbar ist die Tatsache, dass die semantische Affinität der wenigen Ausdrücke zum Bereich des Militärs einerseits (bandwô, hilms, *wardja) und andererseits wohl auch zum gesellschaftlich prekären Status (*rêþs 'Vorrat', *haribaírg- 'Herberge', triggwa 'Bündnis') erkennen lassen. Eine eindeutige Entlehnungsmotivation lässt sich daraus jedoch nicht ableiten.
Gerade bei den weit verbreiteten Germanismen ist allerdings stets auch damit zu rechnen, dass entsprechende gotische Etyma im Gebiet des heutigen Frankreichs durch fränkische oder in Oberitalien womöglich durch langobardische Entsprechungen ersetzt wurden, die lautlich sehr ähnlich gewesen sein können und darum nicht immer eindeutig zu unterscheiden sind; darüber hinaus können auch sekundäre Verbreitungen aus einer romanischen Sprache, z.B. aus dem Französischen ins Iberoromanische nicht ausgeschlossen werden (vgl. etwa die Diskussion um die Wortfamilie von span. espia, ita. spia usw.).
Von multipler Etymologie, d.h. von ähnlichen Grundwörtern aus mehreren romanischen Sprachen, die sich womöglich überlagert und beeinflusst haben, ist auch im Fall span. rico, ita. ricco usw. auszugehen.
In gewisser Hinsicht ist die Etymologie aus einer bestimmten germanischen Sprache umso sicherer, je kleiner das Verbreitungsgebiet in der Romania ist; insbesondere in fehlenden Entsprechungen im Französischen darf man einen Hinweis auf möglichen gotischen Ursprung sehen; vgl. in diesem Sinn þwaírhs oder *stalla. Ein Wort mit prototypisch 'westgotischer' Verbreitung ist port., span., kat. gana 'Lust, Appetit' (vgl.DLE s.v.).