Der ALI (vgl. 1995-) wurde 1924 von M.G. Bartoli (Albona, Istria, 1873 – Torino, 1946) begründet; als Explorator wirkte Ugo Pellis (Fiumicello d’Aquileia, Friuli, 1882 – Gorizia, 1943). In einer ersten Phase wurden 727 Sprachaufnahmen durchgeführt. Nach einer kriegsbedingten Pause, während der Pellis und Bartoli verstarben, erfolgten seit 1952 bis 1965, jetzt von Udine aus und unter der Leitung von Benvenuto Terracini (Torino, 1886 – 1968), weitere 282 Aufnahmen. Mit der Publikation wurde 1995 unter Leitung von Lorenzo Massobrio begonnen; mittlerweile sind 8 Bände in ausschließlich in gedruckter Form erschienen.
1. Fallstudie Istrien
Der AIS hat unverkennbar als Modell gewirkt; es wäre allerdings ungerecht, im ALI nur eine leicht modifizierte Kopie zu sehen; vielmehr sind beide durchaus komplementär, und es wäre wünschenswert, dass der ALI in gleicher Weise wie der AIS zur Kenntnis genommen würde. Die wichtigsten Unterschiede liegen im umfangreicheren Fragebuch, das sich zwar weniger streng an der traditionellen Arbeitswelt orientiert, aber für das grosso modo die dieselben Vorhalte wie gegenüber dem AIS gelten (♦) und im Ortsnetz, das in manchen Gegenden deutlich dichter geknüpft (vgl. die Synopse der Ortsnetze). Sehr wertvoll ist in dieser Hinsicht die Dokumentation des weitestgehend verschwundenen Italienischen an der heute kroatischen Adriaküste. Man vergleiche die Gegenüberstellung der Aufnahmeorte (gemeinsame Punkte sind fett):
ALI - Istrien/Dalmatien | AIS - Istrien/Dalmatien |
Albona378 - Albona378 - Antignana369 - Arbe387 - Buie d'Istria362 - Castelnuovo d'Istria365 - Cherso384 - Cittanova d'Istria367 - Cittanova d'Istria366 - Dignano d'Istria380 - Fiume374 - Gimino377 - Làgosta392 - Laurana373 - Lussimpìccolo388 - Lussingrande389 - Ossero386 - Parenzo368 - Pisino371 - Pisino370 - Pola383 - Pola382 - Pola381 - Pola379 - Pòrtole363 - Rovigno d'Istria375 - Rozzo364 - Valdarsa372 - Valle d'Istria376 - Veglia385 - Zara391 - Zara390 |
Cherso399 - Dignano398 - Fiume379 – Montona378 – Pirano368 – Rovigno397 |
Die Unterschiede in den abgefragten Konzepten sind nicht sehr tiefgreifend, aber doch oft aufschlussreich, wie im Folgenden auf Grundlage der hervorgehobenen Karten am Beispiel des ALI-Begriffsfelds GIORNATA gezeigt wird:
ALI - GIORNATA | AIS - korrespondierende Karten |
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1.1. Über UHREN und STUNDEN
Ausgangspunkt des konkreten Vergleichs ist AIS 258 L'OROLOGIO. Dort erscheinen im Norden der Karte zwei lexikalische Typen:
Eine entsprechende Karte gibt es im ALI nicht, und in der Tat ist unklar, was die beiden im gezeigten Kartenausschnitt identifizieren Typen überhaupt bedeuten. In der Legende der AIS-Karte heißt es dazu in einem etwas selbstkritischen Kommentar:
Das eigentliche Problem wird hier von den Herausgebern jedoch nicht angesprochen; man muss sich ja fragen, wie man auf italienisch überhaupt nach «dem Allgemeinbegriff 'Uhr'» fragen kann; die Frage ist offensichtlich aus der Perspektive des Deutschen- eines deutschen Muttersprachlers - gestellt, denn das Begriffsfeld ist im Italienischen ganz anders lexikalisiert. Während im Deu. die unterschiedlichen Zeitmessungsinstrumente (mit der Ausnahme von Wecker) durch spezifizierende Komposita von Uhr bezeichnet werden, koexistieren im Italienischen fünf nicht voneinander abgeleitete Bezeichnungen; es ist daher viel eindeutiger, die Bezeichnungen mit Bildern zu elizitieren, wie das im ALI häufig gemacht wurde:
Die folgende Abb. schematisiert die lexikologischen Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Italienischen; die Unterkonzepte sind Italienischen nur kognitiv, aber nicht lexikalisch mit dem übergeordneten Konzept, also dem "Allgemeinbegriff" der AIS-Legende, verknüpft.
Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage nach der Herkunft des bündnerromanischen/ladinischen Typs ura/ora, der nicht 'Instrument zur Zeitmessung' bedeutet, so wie deu. Uhr, sondern auch 'Stunde', wie alle anderen romanischen Kognaten (fra. heure, ital ora usw.). Im Handwörterbuch des Rätoromanischen (Bernardi 1994) heißt es zur Etymologie:
"HŌRAM ~ it ora, fr. heure ‘Stunde, Uhr’" (Bernardi 1994, 73)
Dieser Hinweis ist ein wenig seltsam, denn weder franz. heure, noch it. ora bedeuten 'Instrument, das die Stunde anzeigt und die Zeit (und anderes) bemisst'. Es drängt sich daher auf, den bündnerrom./lad. Typ als Beutungsentlehnung aus dem Deu. zu interpretieren, wobei auch das deut Wort seinerseits eine Entlehung aus dem Altfra. ist und insofern mittelbar ebenfalls auf das Lat. zurückgeht. In diesem Sinn lautet der Artikel bei Kluge:
"Uhr, Sf std. (14. Jh.) Spmhd. ur(r), ausgehend von mndd. ūr(e), mndl. ure. Die heutige Bedeutung zunächst in orglucke (‛Uhrglocke’), die ältere Bedeutung ‛Stunde’ noch in zwei Uhr, wie viel Uhr ist es? usw. Das niederdeutsch-niederländische Wort ist entlehnt aus afrz. (h)ore, das auf l. hōra ‛Stunde’ zurückgeht. Dieses wiederum ist entlehnt aus gr. hṓra ‛Zeit, Stunde’ (im Ablaut zu Jahr). Der Übergang von ‛Stunde’ (= ‛Zeit’) zu ‛Uhr’ durch Metonymie." (Kluge 2012, online_o.S.)
In synchronischer Perspektive verbindet das Bündnerromanische/Ladinische also die romanische und die deutsch Bedeutung.
Die vom ALI bereitgestellten Daten1 liefern gute Argumente für die vermutete Herkunft des bündnerrom. /lad. Worts aus dem Deutschen, da sich in den Karten desselben onomasiologischen Feldes andere, ganz eindeutige Entlehnungen aus dem Deutschen zeigen. Wir werfen jedoch zunächst einen Blick auf Nordostitalien (Ausschnitt 1), speziell auf Istrien (Ausschnitt 2), um vor allzu schnellen Interpretationen zu warnen. Der in Istrien vertretene Typ quante ore c'è [ʒe] entspricht genau dem deu. wieviel Uhr ist es? und legt Entlehnung nahe:
1.2. Karte 649 CHE ORA È? 'Wieviel Uhr ist es?'
In diesem Fall wäre aber die Interpretation als Germanismus eher falsch, denn derselbe Typ begegnet auch im Aosta-Tal (s. Ausschnitt [3] kint ura l'et usw.), wo ein deutscher Kontakteinfluss unwahrscheinlich ist; zwar gibt es dort die Sprachinseln der alemannischsprachigen Walser, aber der Sprachkontakt hat sich dort ganz dominant in umgekehrter Richtung, vom Romanischen auf das Walserische, ausgewirkt (vgl. Zürrer 2009).
1.3. Karte 654 MERIDIANA 'Sonnenuhr'
Unter den Bezeichnungen der SONNENUHR finden sich im Nordosten des erfassten Sprachgebiets drei lexikalische Basistypen, nämlich das Simplex meridiana sowie Komposita einerseits mit ita. orologio und andererseits mit ura/ora.
Typ (3) ist hier besonders interessant; er zeigt mehrere Varianten:
- die deu. Entlehnung sun-ur in P 305 (Tarvisio);
- die Lehnübersetzung von deu. Sonnenuhr in lad. ora mit der bereits erwähnten Lehnbedeutung von ora nach dem Modell von deu. Uhr;
- schließlich die kroatische Bezeichnung sunčna ura2, die ebenfalls eine Lehnprägung nach deu. Vorbild sein dürfte; genauer gesagt wird das Lehnwort ura (← deu. Uhr) mit einem Adjektiv verbunden, das von kroat. sunce ‘Sonne’ abgeleitet ist (analog zu ita. solare von sole). Das istroitalienische ist also anders zu beurteilen, als das bündnerrom./lad. ura/ora, da es sich nicht um eine Bedeutungsentlehnung aus dem Deutschen handelt, sondern um eine lexikalische Entlehnung aus dem Kroatischen, die ihrerseits aus dem Deutschen stammt (standardkroatisch heißt es sunčani[k] sat [sat ‘Uhr’]).
1.4. Karte 652 LANCETTE DELL'OROLOGIO 'Zeiger der Uhr'
In einer ganz ähnlichen Verbreitung (Dolomiten, Istrien) findet sich hier die Entlehnung des deutschen Typs Zeiger.
Aus den Tonvokalen der Formen (durchwegs /o/ und /a/ wie zòogri, zàgri usw.) wird im Übrigen klar, dass die Entlehnungen nicht aus dem Standarddeutschen, sondern aus den benachbarten bairischen Dialekten, d.h. aus der Mündlichkeit erfolgt sein muss.
1.5. Karte 653 SVEGLIA 'Wecker'
Das nun schon gewohnte Bild (Dolomiten, Julisch-Venetien, Istrien) wiederholt sich auch hier; in diesem Fall wurde deu. Wecker entlehnt.
Ein deutsch-italienischer Doppelbeleg findet sich P 302 (Paluzza); zu dieser Gemeinde gehört auch die kleine bairische Sprachinsel Timau (bair. Tischlbong); um den Status von véku-uur (Entlehnung oder Switch?) einschätzen zu können, wäre es erforderlich näher Informationen über den Informanten zu haben.
2. Fazit, Epilog - und Prolog
Die komplementäre Konsultation von und Pellis und damit die maximale Vermehrung der Daten ist unbedingt sinnvoll; vor allem die Vermehrung der Konzepte erlaubt eine differenziertere Beschreibung und verlässlichere geschichtliche Interpretation; die zu Beginn vermutete Bedeutungsentlehnung von bündnerromanisch/ladinisch ura/ora ‘Uhr’ aus dem Deutschen lässt sich jedenfalls im Licht der anderen Entlehnungen dieses onomasiologischen Feldes nicht bezweifeln. Die untersuchten Beispiele zeigen weiterhin, dass sich der jahrhunderlange Sprachkontakt in Tirol und in der Provinz Küstenland deutlich stärker ausgewirkt hat als in den anderen, nur kurzzeitig österreichischen Gebieten Oberitaliens, die auf der folgenden Karte dargestellt werden:
Der Ausschnitt stammt aus der berühmten Ethnographischen Karte der österreichischen Monarchie von Karl Czoernig; sie markiert den gewaltigen Fortschritt, den die Kartographie in der Mitte des 19. Jahrhunderts genommen hat. Dadurch wurde auch die Entstehung der Sprachatlanten zweifellos begünstigt. Gleichzeitig wird klar, dass die Geolinguistik bis heute keine Kartierung der Mehrsprachigkeit hervorgebracht hat, die mit der ethnischen Vielfalt korrespondiert. Denn Czoernig hat nicht nur das Nebeneinander in der Fläche sondern sogar das Miteinander in kleineren und größeren städtischen Räumen notiert; man beachte die unterschiedlichen farblichen Ringe, mit denen im folgenden Ausschnitt z.B. Görz (ita. Gorizia), Triest und Fiume (kroat. Rijeka) umgeben sind (Rosa steht für deutsch, Gelb für italienisch, Olivgrün für slowenisch):
Gleichzeitig formuliert der Autor der Karte im zugehörigen Handbuch (Czoernig 1857) bereits sehr grundsätzliche Vorbehalte gegenüber einer ethnischen Klassifikation von Arealen. Diese Bedenken entwickelt er - keineswegs zufällig - ausgehend von Istrien:
Die Forschung entwickelt sich in Traditionen weiter, wie z.B. in Form von Sprachatlanten; es ist jedoch unvermeidlich, gelegentlich einen Schlusspunkt zu setzen und durch einen Epilog zu verbalisieren. Forschung geht aber - zum Glück - weiter und jeder Epilog impliziert gewissermaßen den Prolog einer möglichen neuen Tradition. In diesem Sinn sollte die einsprachig konzipierte, intralinguale Sprachgeographie durch eine mehrsprachige, interlinguale Geolinguistik abgelöst werden, die - genauer gesagt - nicht nur durch unterschiedliche Informanten unterschiedliche Sprachen abfragt, sondern die Daten unterschiedlicher Sprachen im Repertoire ein und desselben Informanten erhebt.