0.1. Wiederholung: Relevantes für die Verbalmorphologie aus Sprachtypologie und Natürlichkeitstheorie
Ein morphologischer Prozeß bzw. eine morphologische Struktur ist natürlich, wenn er/sie
a) weit verbreitet ist und/oder
b) relativ früh erworben wird und/oder
c) gegenüber Sprachwandel relativ resistent ist oder durch Sprachwandel häufig entsteht. [...] Obwohl wir aus Gründen einer kürzeren Ansprechbarkeit gelegentlich die Dichotomie ,natürlich' vs. ,unnatürlich' verwenden, handelt es sich bei ,natürlich' um ein komparatives, mindestens 2-stelliges, asymmetrisches Prädikat: Phänomen X ist relativ natürlicher als Phänomen Y (bezüglich Z und Z')).
(Mayerthaler 1981: 2)
0.1.1. Markiertheitswerte
MAYERTHALER unterscheidet zwischen drei Typen von für die Morphologie relevanter Markiertheit, der semantischen Kategorienmarkiertheit ("sem-Werte"; wobei ,semantisch' im weiteren Sinne als ,inhaltlich' zu verstehen ist), der Symbolisierungsmarkiertheit ("sym-Werte") und der abgeleiteten Markiertheit für symbolisierte Kategorien ("m-Werte"). Jede Markiertheitsfestlegung beginnt mit der Bestimmung von sem-Weerten, dann werden die sym-Werte ermittelt. Auf der Basis beider operiert der morphologische Markiertheitskalkül, der Paaren des Typs (Kategorie, Symbolisierung) die m-Werte, d.h. die endgültigen Markiertheitswerte, zuweist.
(Wurzel 2001: 21, Hervorhebungen im Original)
merkmallos ≠ unmarkiert (z. B. engl. Pl. sheep ‚Schafe' merkmallos, aber markiert)
merkmalhaft ≠ markiert (z. B. engl. Pl. boys ‚Jungen' merkmalhaft, aber unmarkiert)
Kodierung: m> → m< ,Markiertheitsabbau', m< → m> ,Markiertheitszunahme'
Natürlichkeit und Markiertheit sind dabei indirekt proportional.
Die prototypischen Sprechereigenschaften sind biologisch-psychologisch und sozial-pragmatisch bedingt. [...] Aus dem Primat der prototypischen Sprechereigenschaften gegenüber den jeweils komplementären Gegebenheiten lassen sich direkt oder indirekt Markierungsbeziehungen [...] ableiten:
sem< (Subjekt, Objekt)
sem< (belebt, nichtbelebt)
sem< (1. Person, andere Personen)
sem< (Präsens, Nichtpräsens)
sem< (Indikativ, Nichtindikativ)
sem< (Singlular, Plural)
(Wurzel 2001: 22)
Die Symbolisierungsmarkiertheit beruht auf dem Konzept der optimalen Symbolisierung von Kategorien. Eine Symbolisierung ist optimal bzw. maximal natürlich, genau dann, wenn sie konstruktionell ikonisch, uniform und transparent ist, andernfalls mehr oder weniger natürlich.
(Wurzel 2001: 22)
0.1.2. Typologie
I) Ikonismus grundlegend: Zeichen und Bezeichnetes nähern sich an.
1) deu kikeriki
II) Ikonizität grundlegend: Maß der Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem
Dazu sagen Wurzel und Mayerthaler:
Konstruktioneller Ikonismus liegt vor, wenn die Asymmetrie zweier Kategorien hinsichtlich ihrer semantischen Markiertheit sem (Ki, Kj) auf eine Asymmetrie der Symbolisierung abgebildet wird. MAYERTHALER nennt das Prinzip des konstruktionellen Ikonismus ,einen der konstitutiven Züge jeglicher Morphologieorganisation.
(Wurzel 2001: 22, Hervorhebung im Original)Das Prinzip des k. Ik. begründet, weshalb in natürlichen Sprachen sem>-Kategorien vorzugsweise merkmalhafter kodiert werden als Basiskategorien.
(Mayerthaler 1981: 25)
Bei Jakobson heißt es:
Any attempt to treat verbal signs as solely conventional, ,arbitrary symbols' proves to be a misleading oversimplification. Iconicity plays a vast and necessary, though evidently subordinate part in the different levels of linguistic structure.
(Jakobson 1971: 700)
Deshalb spricht Mayerthaler von konstruktionellem Ikonismus, so betont er den morphologischen Aspekt des Ikonismus.
III) Tempus, Modus, Aspekt
Tempus: Zeitform
Modus: Haltung des Sprechers zum Gesagten, also Indikativ, Konjunktiv, Imperativ. Im Spanischen zusätzlich: Subjuntivo.
Aspekt: Verhältnis des Verbs zum Gesagten, also durativ/inkompletiv (betont den Verlauf) kompletiv-ingressiv (betont den Beginn)mit Handlungsanfang, kompletiv-egressiv (betont das Ende)
Zusammengefasst, unter Berücksichtigung der bisherigen Beiträge zur Verbalmorphologie (insbesondere Konjugationsparadigmen des Präsens im Rahmen der Natürlichkeitstheorie): Was semantisch mehr ist, sollte auch morphologisch (konstruktionell) mehr sein (vgl. Mayerthaler 1981: 25).
0.1.3. Heuristische Quelle
Historische Grammatik (Sprachwandel): Hypothese: Bei Sprachwandel setzt sich - ausgenommen Entlehnung und Hyperkorrektion - normalerweise m< durch. (m> → m<) (vgl. Mayerthaler 1981: 4)
Bevorzugt also Sprachwandel natürliche Formen? Dieser Beitrag will das anhand einiger Kopula im Spanischen untersuchen.
0.2. Was ist ein Kopulaverb?
Definición léxica RAE de 'verbo copulativo':
1. m. Gram. verbo de escaso contenido léxico que une un sujeto con un atributo; p. ej., es en Su hijo es encantador.
Kopulaverben schließen im Spanischen kein Akkusativobjekt an, aber das prädikative Attribut ist obligatorisch und oft Nominal- oder Verbalprädikat. Einige Adjektive ändern ihre Bedeutung in Abhängigkeit von der Präsenz eines Kopulaverbs: bueno, malo, vivo, fresco, despierto, joven, ...
Grammatikalisierung: es más, es decir, esto es, o sea
(vgl. Remberger / González-Vilbazo 2007)
Aber: In einigen Fällen ist spa. ser noch mit Prädikat versehen, etwa spa. érase una vez, es a mi, eso es. Darüber hinaus in der Bedeutung von suceder, ocurrir, acaecer, acontecer, tener lugar
Die Kopula ser wird in Kontexten verwendet, die Individuenprädikate (ILP – Individual Level Predicates) betreffen, die Kopula estar erscheint vornehmlich zusammen mit Stadienprädikaten (SLP – Stage Level Predicates). Auch in anderen syntaktischen Konstruktionen des Spanischen werden ser bzw. estar als Hilfsverben gebraucht, so z.B. im Passiv oder der progressiven Gerundialkonstruktion.
Remberger / González-Vilbazo 2007: 1)
Zum Vergleich: weitere romanische Sprachen, Arabisch (semitische Sprache - tunesische Varietät)
1) أنامصطفى
ʔɑnɑ Məṣṭɑfɑ.
‚Ich bin Mustafa.‘
2) بيت كبير
əl-bēt əkbīr.
‚Das Haus ist groß.‘
0.2.1. Kommunikationsparadigmen des Altspanischen
Analytisch>Synthetisch, außer Futur I
1) altspa. contar telo é → (te lo) contaré
As with all cases of linguistic change, we are not in a position to predict exactly when analogy will defeat phonological change or when the latter will win the contest, but it can often be noted that the outcome is dependent upon the frequency of the lexeme in question If digo/dizes has retained its consonantal alternation, which is the result of phonological change, while cuego/cuezes has been regularized (to cuego/cueces), as the result of analogy, this outcome is almost certainly due to the much higher frequency of the first verb in comparison with the second. It is the most frequent words which resist analogical reconstruction, thereby allowing free rein to phonological change. (Penny 2002: 153)
SEDERE > seer > ser (Frikativisierung des intervokalischen -d-, vgl. VIDERE > veer > ver oder AUDIRE > oir)
ESSE > ESSERE > ⊗
STARE > estar
PERMANERE > permanescere > permanecer (Inchoatives Paradigma, also eingeschobenes -esc- Infix)
0.2.2. Flexionen im Präsens
SEDERE>seer>ser
sedeō | sedēs | sedet |
sedēmus | sedētis | sedent |
so | eres | es |
somos | sodes |
son |
soy | eres | es |
somos | sois | son |
STARE>estar>estar
stō | stās | stat |
stāmus | stātis | stant |
estó | estás | está |
estamos | estades |
estáis |
estoy | estás | está |
estamos | estáis | están |